Filmischer Ausnahmezustand: Der Wiener Prater

Alte Lichtbild- und frühe Filmaufnahmen beweisen, dass Fotografen und Filmoperateure – ob als Professionisten oder Amateure – dazu neigten, das Nicht-Alltägliche festzuhalten, so etwa einen Besuch im Wiener Prater. An besondere Momente des Lebens wollte und will man sich für immer erinnern, an Tage des Glücks und der Ausgelassenheit kann man so für einen Augenblick zurückkehren.

Ein Ort, der das Feiern, die Flucht aus dem Alltag zum Prinzip machte und macht, ist der Prater. Es verwundert nicht, dass schon zu Beginn der Kinematographie der Wiener Vergnügungspark die Männer hinter der Kamera oftmals zum Hinschauen animiert und letztlich nicht mehr losgelassen hat. Zu viel gab es hier zu beobachten: Neuartige technische Gerätschaften, exotische Attraktionen, fremde Welten und allem voran ein Publikum, das sich zwischen Nervenkitzel und Lebenslust ein Stück Freiheit eroberte.

Bereits 1896 fanden im Prater erste kinematographische Vorführungen statt und ab 1905 entwickelte sich das Vergnügungs- auch zum Kinozentrum der Stadt. Barock anmutende Fassaden, wie jene des Krystall-Kinos, das mit seinen Zwiebeltürmen sofort erkennbar war, wurden von nun an zu filmischen Prater-Ikonen erhoben. Es war der richtige Platz für das neue Medium, wo der „Kultur des Schauens“ gefrönt, wo der Voyeurismus nicht nur offen gelebt wurde, sondern Teil des Spektakels war. Zu bestaunen waren außergewöhnliche Körper: Artisten, „Zwerge“ und „Riesen“, Muskelmänner, Schlangenbändiger und Kunstschützen. Mit Lust beobachtet das Publikum „diese Launen der Natur“, die ihr „Anderssein“ zu „Besonderssein“ umdeuteten. Einer, der seine körperliche Eigenheit als „erstklassige Attraktion“ zur Schau stellte, war der „Rumpfmensch“ und Praterunternehmer Karl Kobelkoff. Er hatte gelernt, mit seinem Armstummel zu malen, zu schießen und Gewichte zu heben und erhob dieses Können zu seiner Kunst. Kobelkoff war eine ganz andere Art von „Lebenskünstler“ und begründete eine Praterdynastie, die noch heute besteht („Kobelkoff“, F 1899).

Der Wiener Prater war seit dem 19. Jahrhundert ein Ort des „Sehens“ und des „Gesehen Werdens“. Die Wiener Gesellschaft flanierte und promenierte, beobachtete und wurde beobachtet. Er war ein idealer Schauplatz der Repräsentation. Eine gebändigte, „bürgerliche“ Schaulust entfaltet sich beim traditionellen „Blumenkorso im Mai“ (F ca. 1908). Seit 1896 feierte die Wiener Gesellschaft ein von Pauline Fürstin Metternich initiiertes Frühlingsfest im Prater. Jahr für Jahr begeisterten sich die Wiener für die prächtig geschmückten Kutschen und Automobile des Korsos. Als Begleitprogramm fanden Konzerte sowie sportliche und artistische Darbietungen statt.

Der Prater war letztlich zum bedeutendsten Vergnügungsviertel der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt avanciert. Als Schauplatz der Weltausstellung 1873 erfreute er sich großer Beliebtheit. Entlang der Hauptallee hatte man ab dem 18. Jahrhundert Kaffeehäuser errichtet. Dort spielten unter anderem auch Tanzkapellen, wie jene von Johann Strauß, auf. Der „Walzerkönig“ zählte zu einem jener Idole, die weit über ihren Tod hinaus hoch verehrt wurden. Ein Spielfilm widmete sich 14 Jahre nach seinem Ableben dem großen Künstler. „Johann Strauß an der schönen blauen Donau“ (A 1913) gab sein Leben mit fiktionalen Inhalten angereichert wieder. Dem „Meister der Operette“ hatte man mit diesem Film ein Denkmal gesetzt. Am Ende des Streifens wird ein Maienfest im Wiener Stadtpark zelebriert. Ein „Star“ der damaligen Zeit, die Volksschauspielerin Hansi Niese, huldigt im Film dem unsterblichen Meister vor seinem realen Ehrenmal.

Neue kulturelle Strömungen, die für den Aufbruch und die Moderne Wiens um 1900 stehen, wie die Wiener Secession und ihre Vertreter oder etwa die Komponisten Gustav Mahler und Arnold Schönberg, blieben – da damals noch nicht in den offiziellen Kulturkanon aufgenommen – von jeglicher zeitgenössischer filmischer Dokumentation oder gar Huldigung ausgespart.

Bibliografie 

Ballhausen, Thomas/Krenn, Günter: „Dem Schönen ein Heim“. Physische Abnormitäten und als Attraktionen zwischen Präsentation und Repräsentation, in: Dewald, Christian/Schwarz, Werner Michael: Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos, Wien 2005, 265-278

Grafl, Franz: Praterbude und Filmpalast. Wiener Kino-Lesebuch, Wien 1993

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