Ein Kompromiss mit Wien: Die polnische Autonomie in Galizien

Da es politisch unwahrscheinlich war, in absehbarer Zeit eine Wiedererrichtung des polnischen Staates zu erwirken, war aus der Sicht der galizisch-polnischen Eliten die Existenz innerhalb der Habsburgermonarchie ein Faktum, das es bestmöglich zu nützen galt – bis die Zeit reif sein würde, wieder einen eigenen Staat zu erhalten.

Die Forderung nach einer Stärkung des polnischen Elements ging bei den polnischen Eliten mit der politischen Loyalität zu Österreich einher, was für Wien eine akzeptable Form des Kulturnationalismus darstellte. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebte das polnische Kulturleben eine Renaissance. Die Zentralstelle für die kulturelle Wiedererweckung war das von Józef Maksymiljan Graf von Ossoliński begründete landeskundliche Nationalinstitut Ossolineum in Lemberg (1827).

Angesichts der repressiven Politik Russlands in Kongress-Polen und der Aussichtslosigkeit einer baldigen Wiederauferstehung eines freien polnischen Staates sahen sich die österreichischen Polen in Galizien als Hüter des Polentums. Sie fanden hier im Vergleich zur Situation im preußisch-deutschen oder russischen Teil Polens günstige Bedingungen für die Entfaltung der polnischen Sprache und Kultur.

Die loyalen Galizier, deren Zweckbündnis mit der Wiener Regierung unter dem Schlagwort Ugody (polnisch für: Vereinbarungen) lief, waren für Wien in Zeiten des grassierenden nationalistischen Extremismus ein verlässlicher Partner. Wien dankte dies mit weitreichenden Zugeständnissen: 1869 wurde Polnisch zur inneren Verwaltungssprache bei Behörden und Gerichten in Galizien erklärt. Nachdem sich Polnisch als Unterrichtssprache des unteren und mittleren Schulwesens etabliert hatte, wurde es 1870/71 auch als Vorlesungssprache an den Universitäten in Krakau und Lemberg eingeführt.

Das Resultat der Polen-freundlichen Maßnahmen war eine Landesautonomie für Galizien unter polnischer Vorherrschaft. Vertreter der polnischen politischen Szene hatten schließlich auch einen fixen Sitz in der österreichischen Zentralregierung reserviert: So stellten die Polen mit Alfred Józef Graf Potocki und Kasimir Graf Badeni zwei Ministerpräsidenten sowie etliche Minister wie zum Beispiel Agenor Graf Gołuchowski, Außenminister von 1895–1906.

Die Schattenseite des stillen Übereinkommens zwischen Wien und Lemberg war, dass dank der engen Kooperation des polnischen Adels mit Wien die traditionelle Machtstellung des adeligen Großgrundbesitzes gestützt und soziale wie ökonomische Missstände prolongiert wurden. Galizien blieb ein Agrarland mit einer extremen Konzentration des Grundbesitzes in den Händen weniger adeliger Gutsherren. Trotz des Reichtums an Bodenschätzen und Rohstoffen – neben dem Salzbergbau wurden Ende des 19. Jahrhunderts auch die galizischen Erdölvorkommen erschlossen – war das Land kaum industrialisiert. Aufgrund von Übervölkerung und Landhunger wurde Galizien zu einem klassischen Auswanderungsgebiet. Hunderttausende verließen das Land auf der Suche nach einer besseren Zukunft.

Noch gravierender waren die Auswirkungen der Zementierung der Macht in den Händen der polnischen Eliten für die Situation der Ruthenen, die weiterhin Bürger zweiter Klasse blieben und in der politischen Repräsentation massiv benachteiligt waren. Außenpolitisch wurde die De-facto-Autononomie der österreichischen Polen von Deutschland und Russland, die in ihren Territorien eine dezidiert antipolnische Politik betrieben, mit Skepsis beobachtet.

Bibliografie 

Batowski, Henryk: Die Polen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 522–554

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. (3. Auflage), Stuttgart 1998

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationalitätenpolitik im Vielvölkerreich

    Am Beginn des Zeitalters der Nationswerdung diente das Reich der Habsburger als Treibhaus für die Entwicklung nationaler Konzepte für die Völker Zentraleuropas.  Später wurde der staatliche Rahmen der Doppelmonarchie jedoch immer öfter als Hindernis für eine vollkommene nationale Entfaltung gesehen.

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.