Polen und Ruthenen in der Habsburgermonarchie

Polen und Ruthenen dominierten den Nordosten der Habsburgermonarchie. Zahlenmäßig gehörten beide Nationalitäten zu den größeren Sprachgruppen Österreich-Ungarns.

Die Polen bildeten die viertgrößte Sprachgruppe in der Doppelmonarchie. Bei der Volkszählung 1910 bekannten sich 5,3 Millionen Menschen zur polnischen Sprachgruppe, was einem Anteil von ca. 10 % an der Gesamtbevölkerung entsprach. In der österreichischen Reichshälfte, auf die sich ihr Siedlungsgebiet fast vollständig konzentrierte, nahmen sie mit einem Bevölkerungsanteil von 17,8 % den dritten Platz ein.

Das Herzland der Polen unter habsburgischer Herrschaft war Galizien, wo 1910 sich 58,6 % der Bevölkerung als Polen deklarierten. Weitere Kronländer mit polnischer Bevölkerung waren Österreichisch-Schlesien mit 31,7 % und die Bukowina mit 4,6 %. Als statistisch nicht relevante Minderheit siedelten Polen auch in den oberungarischen Nordkarpaten, wo das polnische Sprachgebiet die Grenze zu Ungarn überschritt.

In enger historischer wie geographischer Verschränkung mit den Polen lebten die Ruthenen. Unter dieser Bezeichnung versteht man die Sprecher der westukrainischen Variante der ukrainischen Sprache. Um diese von der Mehrheit der Ukrainer, die unter russischer Oberhoheit lebten, zu unterscheiden, wurde der Begriff Ruthenen von der k. u. k. Bürokratie eingeführt.

Die Ruthenen bildeten in der Habsburgermonarchie eine Sprachgruppe von 4,2 Millionen Menschen, was einem Anteil von 7,9 % an der Gesamtbevölkerung entsprach. Ihr Siedlungsgebiet erstreckte sich auf beide Reichshälften, wo sie außerdem auf mehrere Kronländer aufgeteilt waren, ohne irgendwo in einer Mehrheitsposition zu sein.

Der Großteil der Ruthenen (3,7 Millionen) lebte in Cisleithanien, wo sie mit 12,6 % die viertgrößte Sprachgruppe bildeten. Galizien beherbergte mit 3,3 Millionen (= 40,2 % der Bevölkerung dieses Landes) die größte Zahl der Ruthenen. In der Bukowina lebten weitere 0,3 Millionen (= 38,4 % der dortigen Bevölkerung).

In der ungarischen Reichshälfte waren die Ukrainer bzw. Ruthenen in den nordöstlichen Komitaten konzentriert, wo ca. eine halbe Million Angehörige dieser Volksgruppe lebten, was 2,5% der Bevölkerung Ungarns entsprach. Die Eigenbezeichnung der ungarischen Ruthenen lautet Rusyny, daher werden diese in der modernen Literatur auch mitunter als Russinen bezeichnet. Inwieweit es sich bei den Russinen um ein eigenständiges ostslawisches Kleinvolk handelt, war damals wie heute umstritten. In vielen Fällen war die Abgrenzung zu benachbarten Volksstämmen schwierig, da die Bewohner der Karpaten, die zum Teil in einer vormodernen Lebensweise verharrten, zwar ein Regionalbewusstsein, aber kein Nationalbewusstsein entwickelt hatten. Es existierten etliche ethnische Kleingruppen wie die Huzulen, Bojken oder Lemken, die sich kaum national zuordnen ließen. Je nach Standpunkt der Betrachter wurden diese Bergbauern der Karpatenregion von Polen, Slowaken oder Ukrainern vereinnahmt. Diese „Exoten“ unter den Völkern der Habsburgermonarchie wurden aufgrund ihrer archaischen Lebensweise von ethnographischen Forschern aus einem quasi-kolonialistischen Blickwinkel der vermeintlichen Überlegenheit mitunter wie außereuropäische „Eingeborenenstämme“ beschrieben.

Bibliografie 

Batowski, Henryk: Die Polen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 522–554

Bihl, Wolfdieter: Die Ruthenen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 555–584

Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.