Die großen Unbekannten: Die Ruthenen

Die Ruthenen, wie die Westukrainer im alten Österreich genannt wurden, traten mit denkbar schlechten Karten in das nationale Zeitalter ein. Als „geschichtsloses Volk“ verfügten sie nur über ein sehr schwaches Bewusstsein der nationalen Eigenständigkeit. Selbst in den Wiener Schaltstellen der Politik war der Kenntnisstand über diese Ethnie sehr gering.

Die ruthenisch-ukrainische Bevölkerung der Monarchie war auf die Kronländer Galizien und Bukowina sowie auf das nordöstliche Ungarn aufgeteilt, wo sie sich überall in einer Minderheitenposition befand. Trotz zahlenmäßiger Stärke – 1910 zählte man über vier Millionen Sprecher der ruthenischen Sprache – bildete sich bei den Ruthenen aufgrund der jahrhundertelangen sozialen Benachteiligung nur sehr zögernd eine politisch aktive Elite als Trägerin des Nationalbewusstseins. Der Großteil der überwiegend bäuerlichen ruthenischen Bevölkerung lebte in archaischen Verhältnissen in den strukturschwachen Gebieten im Osten der Monarchie, unberührt von der sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungswelle, welche die westlichen Reichsteile erfasst hatte.

Das ruthenische Nationalbewusstsein definierte sich vor allem durch die Zugehörigkeit zur griechisch-katholischen Kirche, die im Zuge der polnisch-litauischen Staatsbildung durch die Union von Brest (1596) geschaffen worden war. Diese Kirchenorganisation war das Resultat der besonderen Lage der Westukrainer am Übergang zwischen der lateinischen und byzantinisch-orthodoxen Welt. Trotz Beibehaltung des orthodoxen Ritus wurde die griechisch-katholische Kirche der Autorität des römischen Papstes unterstellt. Die eigenständige Kirchenorganisation war ein entscheidender Faktor für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins unter den Ruthenen, denn sie bot ein Abgrenzungsmerkmal zu den katholischen Polen und den orthodoxen Ukrainern unter russischer Herrschaft.

Im Vergleich zu den anderen Völkern der Habsburgermonarchie waren die Ruthenen in ihrer Nationswerdung Nachzügler, da das moderne Nationsdenken hier erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts Wurzeln schlug. Das zuvor regional und konfessionell verankerte Bewusstsein wurde in ein nationales Geschichtsbild eingebettet, wonach es die historische Aufgabe der Ruthenen gewesen wäre, ein Schutzschild gegen die asiatischen Reiterhorden des Osten zu bilden. Als Ureinwohner der Region seien sie später unter die Vorherrschaft der Polen und Ungarn gekommen und lebten in Symbiose mit anderen Völkern (Juden, Armenier), wobei ihre angeborene Friedfertigkeit ausgenützt worden sei. Das Ziel bestünde in der Abschüttelung der Fremdherrschaft und der Emanzipation aus polnischer bzw. magyarischer Bevormundung.

Es wurden Bildungsgesellschaften gegründet, um die Errungenschaften der aufklärten Moderne in die ruthenischen Dörfer zu bringen. Dabei war eine enge Verquickung von nationalen und sozialen Anliegen zu bemerken. Maßnahmen für den Bauernschutz und der Ausbau des Genossenschaftswesens sollten die extrem schlechte wirtschaftliche Lage der ruthenischen Kleinbauern und Landarbeiter verbessern. Die Ruthenen litten auch an der massiven Auswanderungsbewegung, die Hunderttausende nach Übersee oder als Arbeitsmigranten in die Industriegebiete der Monarchie abwandern ließ. Eine bedeutende Persönlichkeit war in diesem Zusammenhang der Literat, Übersetzer und Journalist Ivan Franko (1856–1916), der während seines Studienaufenthaltes in Wien ein düsteres Bild der Großstadt zeichnete. Aus der Perspektive der Ausgeschlossenen zeigte er die Schattenseiten des mondänen Wiens der Ringstraßenzeit auf.

Bibliografie 

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Bihl, Wolfdieter: Die Ruthenen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 555–584

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.