Die österreichischen Ruthenen hatten eine gewisse Vorreiterrolle in der Ausbildung eines ukrainischen Nationalbewusstseins, denn ihren Konationalen unter der Herrschaft des Zaren wurde überhaupt die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation abgesprochen.
Die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins unter den Ruthenen bzw. Ukrainern war erschwert durch die Grenzziehung zwischen Österreich und Russland, die das ukrainische Sprachgebiet zerschnitt. In Russland, wo man die Ukrainer in der zeitgenössischen Diktion als Kleinrussen bezeichnete, galten diese als Zweig der gesamtrussischen Nation. Im Reich der Habsburger unterstützte man hingegen die Idee einer eigenständigen ukrainischen Nation, als sich im 19. Jahrhundert unter den Ruthenen, wie im alten Österreich die amtliche Bezeichnung für diese Volksgruppe lautete, erste nationale Gefühle regten. Hinter der positiven Reaktion Wiens auf die zaghaften Emanzipationsbestrebungen stand nicht so sehr selbstlose Humanität, sondern das Kalkül, etwaige panslawische Vereinigungstendenzen zu unterbinden.
Doch auch innerhalb der Habsburgermonarchie fanden sich die Ruthenen nach 1867 zwischen der österreichischen und ungarischen Reichshälfte aufgeteilt, wo sich sehr unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten boten. Die unter ungarischer Vorherrschaft lebenden Karpatoukrainer, die sich unter der Eigenbezeichung Russinen als eigener Volksstamm sahen, forderten kulturelle Autonomie innerhalb Ungarns – ein Bestreben, dem angesichts der scharfen Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierung kein Erfolg beschieden war.
Etwas günstiger fiel die Entwicklung in Galizien und in der Bukowina aus, wo die Ruthenen jedoch ebenfalls benachteiligt waren. In Galizien erreichten die polnischen Eliten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine De-facto-Autonomie, was eine Polonisierung des Schulwesens und der Verwaltung zur Folge hatte. Auch in Hinblick auf die politische Vertretung waren aufgrund des Zensuswahlrechts die Ruthenen, die zumeist den ökonomisch schwachen Schichten angehörten, lange Zeit krass unterrepräsentiert.
Angesichts der tristen Lage in den angestammten Gebieten spielten die Organisationen der ukrainischen Diaspora im Ausland eine bedeutende Rolle. Die nationale Politisierung unter den Ruthenen wurde zu einem nicht geringen Teil von vornehmlich in den USA beheimateten Auswanderer-Verbänden getragen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die ruthenische Nationsbewegung in der Habsburgermonarchie eine Spaltung aufgrund der innerukrainischen Kontroverse um die ethnische Identität. Der national-ukrainische Flügel betonte die Eigenständigkeit der ruthenischen Nation und sprach sich für eine nationale Entfaltung im Rahmen Österreichs aus. Dieser verlor jedoch zunehmend an Einfluss gegenüber der erstarkenden pro-russischen, orthodox-klerikalen Richtung. Im weit entfernten Wien witterte man die Gefahr des Panslawismus – eine Haltung, die sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschärfen sollte, als die Ruthenen als fünfte Kolonne der Russen gesehen und pauschal als unzuverlässig gebrandmarkt wurden. Allein schon das Vertreten nationaler Standpunkte und ein nationalbewusstes Auftreten galten als verdächtig und wurden verfolgt. Gerade gegenüber der ruthenischen Zivilbevölkerung ging man nun besonders hart vor. Als die ruthenischen Siedlungsgebiete zum Kriegsschauplatz wurden, kam es zu zwangsweisen Massenaussiedlungen, denn die k. u. k. Militärverwaltung befürchtete eine Kollaboration der ansässigen Bevölkerung mit den feindlichen russischen Truppen.
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Bihl, Wolfdieter: Die Ruthenen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 555–584
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Kapitel
- Polen und Ruthenen in der Habsburgermonarchie
- Am Rande des Reiches: Galizien und Bukowina
- Der Kampf der Polen um ihren Staat: Noch ist Polen nicht verloren!
- Ein Kompromiss mit Wien: Die polnische Autonomie in Galizien
- Die Polen im Ersten Weltkrieg: Eine Nation als Spielball der Großmächte
- Die großen Unbekannten: Die Ruthenen
- Annäherung und Abweisung: Die Ruthenen zwischen Österreich und Russland