Hannes Leidinger
Gewalt ohne Ende
Allgemein bedeutete der Jahreswechsel 1918/19 für die mittelosteuropäische Makroregion eine neuerliche Gewalteskalation, die im Wesentlichen auf drei Schlüsselfaktoren beruhte: Erstens Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches und den damit verbundenen Kämpfen zwischen Räteungarn und seinen Nachbarländern, zweitens den territorialen Ansprüchen Polens und seiner Kontrahenten, drittens dem Vordringen der Roten Armee in vormals deutsch-österreichische Okkupationsgebiete.
Okkupation
Weder Deutschland und Österreich-Ungarn noch Russland gelang es, in den von ihnen für kürzere oder längere Zeit eroberten Territorien eine stabile Ordnung zu schaffen und die einheimische Bevölkerung längerfristig an sich zu binden. Das galt in unterschiedlicher Intensität und Ausformung für nahezu alle betroffenen Territorien, allen voran für Polen, die Ukraine und das Baltikum.
Die russische Revolution und der fragile Frieden im „Osten“
Im Unterschied zu der seit der „Februarrevolution“ amtierenden Provisorischen Regierung plädierten die Bolschewiki unter Wladimir I. Lenin für ein Ende des „imperialistischen Krieges“ und vermochten nicht zuletzt auf diese Weise, kampfmüde Soldaten und weite Teile der Bevölkerung anzusprechen. Nach der „Oktoberrevolution“ bemühte sich die neue, von Lenin geführte Sowjetregierung sogleich um den Abschluss eines Waffenstillstandes.
„Ein letztes Aufbäumen“ Russlands
Trotz der Niederlagen im Jahr 1915 verfügte die Zarenarmee noch immer über eine gewisse Schlagkraft, um den Mittelmächten empfindliche Schläge zu versetzen. Im Juni 1916 vernichtete General Alexej Brussilow ganze österreichisch-ungarische Armeen, wenngleich die Offensive nicht annähernd den Charakter einer kriegsentscheidenden Operation annahm. Als nach dem Sturz des Zaren im Frühjahr 1917 die Provisorische Regierung noch einmal auf den Schlachtfeldern reüssieren wollte, löste sie damit aber nur noch eine weitere Destabilisierung Russlands aus.
Die Katastrophe der Zarenarmee
Anfang Mai 1915 geriet aufgrund des deutsch-österreichischen Durchbruchs bei Tarnów-Gorlice die russische Front ins Wanken. In wenigen Wochen war das von den Truppen des Zaren Nikolaus II. okkupierte Galizien zurückerobert. Die anschließenden Vorstöße des deutschen Oberkommandos im Osten führten zur Eroberung von Russisch-Polen und von Teilen des Baltikums.
Die Eröffnungsfeldzüge
In ganz Europa gaben die militärischen Befehlshaber der Offensivstrategie den Vorzug. Nach wenigen Monaten war jedoch klar, dass die Angriffsoperationen fast überall gescheitert waren. Im Westen begann der Graben- und Stellungskrieg. Im Osten fiel die Bilanz der Eröffnungsfeldzüge von Anfang an differenzierter aus.
Krieg gegen die eigene Bevölkerung
Die Armeen der kriegführenden Mächte betrachteten die im Frontgebiet verbliebenen Bewohner nicht selten als unerwünschte Störfaktoren. Die gesteigerte Nervosität und verstärkte „russophile“ Feindbilder im Gefolge der beginnenden Kampfhandlungen forderten daher auch an der Ostfront zahlreiche zivile Opfer. Eine Reihe von Befehlen ordnete das „rücksichtslose Vorgehen“ gegen „Verdächtige und mögliche Verräter“ an. Wer nicht „sofort ohne Schonung“ an Ort und Stelle „niedergemacht“ wurde, sah sich mit einer rigorosen Vertreibungspolitik konfrontiert.
Folgen der Offensiven und Geländegewinne
Zur „Vernichtungseffizienz“ kamen im Osten die demographischen Konsequenzen eines industriellen „Maschinenkrieges“ mit bislang unbekannten Massenmobilisierungseffekten. Dies schlug sich in langen Gefallenen-, Verwundeten- und Gefangenenlisten nieder. Der Bewegungskrieg zog außerdem die zivile Bevölkerung von schier unüberschaubar großen Kampfgebieten, Etappenräumen und Besatzungszonen in Mitleidenschaft.
Charakteristika der Kriegsführung an der russischen Front
Der Krieg im Osten Europas war immer wieder von beachtlichen Geländegewinnen gekennzeichnet, obwohl die Geografie, das Klima und die Weite des Landes groß angelegte Angriffsoperationen genauso erschwerten wie die rudimentäre Motorisierung, das mangelhafte Wegenetz und die andauernden Nachschub-, Versorgungs- und Kommunikationsprobleme.