Die mit Kriegsausbruch entfachte Begeisterung, die vor allem das intellektuell-akademische sowie bürgerliche Milieu erfasste, wurde bereits kurze Zeit später von der Realität des Maschinenkrieges überschattet. Mit Bekanntgabe der ersten Verlustzahlen verhallten selbst die frenetischsten Jubelrufe vieler freiwillig in den Krieg ziehender Männer.
Das österreichisch-ungarische Heer hatte bis Mitte September 1914 bereits 400.000 Verluste (Verstorbene, Verletzte und Gefangene) zu verzeichnen. Die Zeitungen berichteten über die hohen Ausfallsquoten und publizierten lange Listen, die den Hinterbliebenen eine Identifizierung der gefallenen und verletzten Soldaten ermöglichen sollten.
Obwohl die Presse darum bemüht war, die Stimmung unter der Zivilbevölkerung zu beschönigen, verdunkelte sich diese rapide. Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried notierte am 28. September 1914 in seinem Tagebuch:
„Die Stimmung in Wien ist ob des Verlaufs der Ereignisse gedrückt. Doch ist es Patriotismus, sich dies nicht merken zu lassen. Im Kreise meiner journalistischen Freunde wurde gestern behauptet, es ist jetzt geboten, bewusst zu lügen, d.h. die Stimmung als zuversichtlich und stark hinzustellen.“
Nicht nur die Trauer um verstorbene Familienangehörige, auch die Sorge um die eigene Existenz wirkten sich negativ auf die Stimmung in der Zivilbevölkerung aus. Bereits kurz nach Kriegsbeginn waren die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt und die Nahrungsmittelzufuhr ins Stocken geraten. Die wirtschaftliche Produktion war gänzlich auf die Streitkräfte ausgerichtet, die Versorgung der Truppen stand im Vordergrund. In Wien gab es schon im Oktober 1914 nicht mehr genügend Getreide. Auch in anderen Großstädten kam es zu drastischen Versorgungsengpässen, die sich im Laufe des Krieges immer mehr zuspitzten.
In einem von der Wiener Polizeidirektion verfassten Bericht vom 15. April 1915 heißt es: „Die Stimmung der Bevölkerung ist im Allgemeinen ruhig, patriotisch und nach dem Bekanntwerden der Erfolge unserer Truppen in den Karpathen wieder bedeutend zuversichtlicher. Die Kriegsbegeisterung ist allerdings geschwunden; besonders in den unteren Volksklassen macht sich infolge der herrschenden Not eine Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegsereignissen bemerkbar und es wird der baldige Friedensschluss allgemein herbeigesehnt.“
Statt des erhofften Friedens verschlechterten sich die Lebensbedingungen zusehends. Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Hungersnot blieben erfolglos. Die Nahrungsbeschaffung wurde immer schwieriger und die Lebensmittel wurden immer knapper. Auch die ländlichen Gebiete waren von der Versorgungs- bzw. Ernährungskrise betroffen.
Kriegsabsolutismus, Zensur, Militarisierung der Wirtschaft und Ernährungskrise ließen die ursprüngliche Kriegsbegeisterung verfliegen. An ihre Stelle trat wirtschaftliche und militärische Erschöpfung, die alsbald in eine revolutionäre Stimmung umschlug. Infolge der Hungersnot kam es bereits 1916 zu den ersten Hungerkrawallen und Protesten, an denen vornehmlich Frauen und Jugendliche beteiligt waren.
Dies war der Beginn einer Serie von Unruhen und Massenstreiks, die sich bis Kriegsende immer mehr zuspitzen sollte. Die wachsende Streikbereitschaft in der Zivilbevölkerung ist ein deutliches Zeichen für die zunehmende Kriegsmüdigkeit und Desillusionierung der Menschen. Aufgrund der sich stetig verschlechternden Versorgungslage legten zahlreiche Beschäftigte im Mai 1917 sowie zu Beginn und in der Mitte des letzten Kriegsjahres ihre Arbeit nieder. Die Geduld und Durchhaltebereitschaft der Bevölkerung waren an einem Endpunkt angelangt. Im Jänner 1918 streikten in der Doppelmonarchie insgesamt 700.000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Im Juni desselben Jahres erreichten die Proteste einen neuerlichen Höhepunkt. Aufgrund einer weiteren Reduktion der Brot- und Mehlrationen befanden sich allein in Wien 50.000 Beschäftigte im Ausstand.
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Zitate:
Die Kriegsbegeisterung ist …“: Stimmungsbericht der Polizeidirektion Wien, 15. April 1915, zitiert nach: Pfoser, Alfred: Wohin der Krieg führt. Eine Chronologie des Zusammenbruchs, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 606
„Die Stimmung in Wien ist …“: Fried, Alfred H, zitiert nach: Pfoser, Alfred: Wohin der Krieg führt. Eine Chronologie des Zusammenbruchs, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 578-687, 595
„Die Stimmung der Bevölkerung …“: Stimmungsbericht der Polizeidirektion Wien, 15. April 1915, zitiert nach: Pfoser, Alfred: Wohin der Krieg führt. Eine Chronologie des Zusammenbruchs, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 606