„Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“
Besonders intellektuelle Kreise, Schriftsteller, Künstler, Akademiker, Philosophen, Wissenschaftler usw. zeigten sich vom Kriegsausbruch begeistert. Sie betrachteten den Waffengang als Katharsis, als reinigende Kraft, als eine Chance zur Flucht aus einer geächteten und überdrüssig gewordenen Vorkriegswelt.
Viele Vertreter des künstlerisch-intellektuellen Milieus – darunter Anton Wildgans, Georg Heym, Thomas Mann, Georg Trakl, Ernst Jünger, Max Scheler, Hermann Bahr, Georg Simmel, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Oskar Kokoschka usw. – begrüßten den Krieg. Sie sahen in ihm nicht das Ende oder den Untergang, sondern die Veränderung, den Aufbruch in eine neue, bessere Welt, frei von Dekadenz, Utilitarismus und Entfremdung. Die Vorkriegswelt erschien ihnen unwahrhaftig, scheinheilig, geprägt von Materialismus und einer die Wirklichkeit entstellenden Moral. Sie wandten sich gegen Saturiertheit und Rationalismus und kämpften gegen eine Zivilisation, die angeblich alles Natürliche und Echte im Keim erstickte. Der Krieg sollte den mit Industrialisierung und Moderne einhergegangenen Zersetzungsvorgang der Kultur aufhalten oder zumindest teilweise korrigieren.
Die Forderung nach einer kriegerischen Überwindung der Gegenwart war auch in den Künsten allgegenwärtig. Sie würde die Kunst revolutionieren, neue ästhetische Formen hervorbringen und – so Ernst Jünger in seiner Erzählung Sturm – einen neuen Menschentypus erschaffen. „Hier gebar ein neues Geschlecht eine neue Auffassung der Welt, indem es durch ein uraltes Erlebnis schritt. Der Krieg war ein Urnebel psychischer Möglichkeiten, von Entwicklungen geladen.“
Die Verachtung des Zeitgeistes und die Hoffnung, die zahlreiche Intellektuelle in den Kriegsausbruch setzten, werden in der Formulierung Thomas Manns besonders deutlich: „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte? Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“
Auch unter Wissenschaftlern fanden sich viele, die den Ausbruch des Krieges – nicht zuletzt aufgrund sozialdarwinistischer Überlegungen – begrüßten. Sie interpretierten den Krieg als Bewährungsprobe, die zur Auslese der schwachen Gesellschaftssegmente und damit zur Aufwertung der Volksgemeinschaft beitragen würde. „Der Krieg ist ein Prüfstein, auf dem alles ausgeschieden wird, was krank und faul ist“, so schrieb der Psychiater Karl Baller 1917 in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin.
Die Formel vom Krieg als „große Katharsis“ war vor allem unter Ärzten, Psychiatern und Psychologen weit verbreitet, die sich von den Kampfhandlungen eine therapeutische Wirkung für die in der Vorkriegszeit häufig zu beobachtende Nervosität versprachen. Die mit der Moderne einhergehenden Veränderungen – erhöhte Mobilität, Verstädterung, Technisierung usw. – würden das Nervensystem nachhaltig schädigen. Hysterie, Neurasthenie und Nervosität zählten zu den häufigsten Diagnosen, mit denen die Psychiatrie die Nervenkrankheiten der Vorkriegsgeneration zu beschreiben versuchte. Viele Nervenärzte interpretierten die kriegerische Auseinandersetzung als Chance für eine – in ihren Augen verweichlichte und degenerierte – Gesellschaft, die Nerven zu trainieren und die Kontrolle über den eigenen Körper und Geist wiederzuerlangen. Der Krieg sei, so die Diktion des führenden Psychiaters Albert Eulenburg, ein „Stahlbad […] für die im Staub langer Friedensjahre verdorrenden und verschmachtenden Nerven“.
Mit dem Einbruch der grausamen Realität wurden solche Erwartungshaltungen jedoch bitter enttäuscht. Die Artilleriegeschütze trafen die ‚genetisch wertvollen‘ Soldaten ebenso wie die vermeintlich ‚minderwertigen‘, weshalb der Maschinenkrieg, so die neue Schlussfolgerung vieler Rassenhygieniker, eine negative Selektion begünstigen würde. Zudem widersprachen die bereits in den ersten Kriegsmonaten massenhaft auftretenden nervenkranken und traumatisierten Soldaten der Annahme, dass sich der Krieg zur ‚Abhärtung’ der Nerven und zur Überwindung des „Zeitalters der Nervosität“ eignen würde.
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Zitate:
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„Hier gebar ein neues Geschlecht …“: Jünger, Ernst: Sturm, in: Ders.: Sämtliche Werke. Band 15: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1978, 27, zitiert nach, Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 20
„Wir kannten sie ja …“: Mann, Thomas: Gedanken im Kriege, in: Ders.: Politische Reden und Schriften, Frankfurt am Main 1986, 9, zitiert nach: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 19
„Der Krieg ist ein Prüfstein …“: Baller, Karl: Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (1917), 73, 29, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 27
„Stahlbad […] für die im Staub …“: Eulenburg, Albert: Kriegsnervosität, in: Die Umschau (1915), 19, 1, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 28