„Endlich grüßte man das so lang Verdrängte, Überfällige mit Blumen.“
Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden weite Teile der österreichisch-ungarischen Bevölkerung von einer regelrechten Kriegseuphorie erfasst, die aus heutiger Perspektive und im Wissen um die Millionen Todesopfer, die der Krieg forderte, nur schwer nachvollziehbar ist.
Die Begeisterung für den Krieg ließ sich nicht nur in der Doppelmonarchie, sondern auch in vielen anderen Krieg führenden Ländern beobachten. Besonders in Deutschland war die Stimmung Ende Juli und Anfang August 1914 auf einem Höhepunkt angelangt. Die öffentlichen Plätze und Straßen waren voll von jubelnden Menschen, welche das deutsche Vaterland beschworen und für den Krieg demonstrierten. Auch in den Städten der Habsburgermonarchie kam es immer wieder zu Massenaufgeboten und patriotischen Kundgebungen. Auf den Bahnhöfen – so das in den damaligen Zeitungen vermittelte Bild – herrschte Hochstimmung. Die einberufenen Männer wurden gefeiert und mit Blumen und Liebesgaben verabschiedet. Sie zogen mit Zuversicht und Siegessicherheit in den Krieg, der – so lautete die Prophezeiung – ohnehin nach einigen Monaten vorbei sein würde.
„Dass in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte“, musste selbst Stefan Zweig bekennen, der sich später dezidiert gegen den Krieg aussprach. „Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: dass sie zusammengehörten […] Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person, hatte einen Sinn bekommen.“
Es ist das von Stefan Zweig geschilderte Gefühl einer wiedererlangten nationalen Einheit, das die Julistimmung und das für Deutschland so bezeichnete „Augusterlebnis“ maßgeblich prägte. Im Taumel der nationalen Begeisterung schienen Klassengegensätze aufgehoben und rivalisierende soziale Schichten geeint. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ – so der damalige Sinnspruch des deutschen Kaisers.
Der Krieg galt als Mittel zur Überwindung der durch Industrialisierung und Modernisierung begünstigten Desintegration der Gesellschaft. Mit ihm sollten die nationalen und sozialen Spannungen in den Hintergrund treten und die gesellschaftlichen Differenzen aufgehoben werden. Der Gedanke staatlicher Einheit war vor allem für die Habsburgermonarchie, deren Stabilität aufgrund der andauernden Nationalitätenkonflikte stark ins Wanken geraten war, von besonderer Bedeutung. Der Schriftsteller Hermann Bahr zeigte sich begeistert, als er schrieb: „Ganz Österreich eins, desselben Willens, derselben Bereitschaft, desselben Opfermuts, Deutsche, Slawen und Ungarn Brüder, kein Zwist mehr, Eintracht überall, Österreich ist wieder da! Ein Wunder scheint’s. Wer hätte das gedacht?“
Bei der Kriegsbegeisterung handelte es sich jedoch nicht um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, sondern um eine von vielen differierenden Gefühlslagen, die im Sommer 1914 in der Bevölkerung zu finden waren. Propagandistische und generalisierende Darstellungen blendeten jedoch die ambivalenten und negativen Stimmen bei Kriegsausbruch bewusst aus und verhinderten damit eine differenzierte Betrachtung.
Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 15-41
Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013
Sauermann, Eberhard: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar, 2000
Steininger, Rolf: Einleitung: „Gott gebe, daß diese schwere Zeit bald ein Ende nimmt.“ Tirol und der Erste Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 7-25
Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 47-53
Winkelhofer, Martina: So erlebten wir den Ersten Weltkrieg. Familienschicksale 1914–1918. Eine illustrierte Geschichte, 2. Auflage, Wien 2013
Zitate:
„Endlich grüßte man ...“: Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1995, 589, zitiert nach: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 16
„Dass in diesem ersten Aufbruch …“: Zweig, Stefan: Die ersten Stunden des Krieges von 1914, in: ders.: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1970, 258, zitiert nach: Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013, 142
„Ich kenne keine Parteien mehr …“: Wilhelm II., zitiert nach: Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 49
„Ganz Österreich eins …“: Bahr, Hermann: Das österreichische Wunder, Stuttgart 1915, 5f., zitiert nach: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 18