Das Bild von der allumfassenden Kriegsbegeisterung dominierte lange Zeit die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg. Die neuere historische Forschung hat die These einer klassen- und parteiübergreifenden Euphorie jedoch als Legende entlarvt und attestiert, dass es sich dabei um eine einseitige Darstellungsweise handelt.
Vor allem die Presse spielte bei der ‚geistigen‘ Mobilmachung für den Krieg eine wesentliche Rolle und war mitverantwortlich für die Legendenbildung. Immer wieder wurde von enthusiastischen Rekruten berichtet, die mit ihren „Tauglichkeits-Sträußerln“ versehen freudig an die Front zogen. Die Zeitungen waren voll von Fotografien und Berichten von begeisterten Menschenmassen, welche die siegessicheren Soldaten mit Blumen und patriotischen Gesängen verabschiedeten. Viele junge Menschen, die in ihrem Dasein eine gewisse Sinnlosigkeit erblickten, sahen im Krieg ein Abenteuer, eine willkommene Gelegenheit, um aus dieser ‚Trägheit des Lebens‘ auszubrechen. Die Aufwertung ihrer Maskulinität war ein weiterer Grund, warum sich viele junge Männer freiwillig zum Dienst mit der Waffe meldeten. Diejenigen, die dienstunfähig erklärt wurden, waren bitter enttäuscht und empfanden dies als eine unglaubliche Schande.
Doch nicht alle Menschen begrüßten den Krieg. Die Reaktionen auf den Ausbruch des Krieges waren vielfältig und reichten von Bejahung über Akzeptanz bis hin zu Kritik und Ablehnung. Ungewissheit und Bedrückung gehörten ganz maßgeblich zur Stimmungslage. In einem Interview über seine Erinnerungen an den August 1914 erzählte der damals zwölfjährige Philip Schuster: „Man hat ihnen Mut zugejubelt: […] wir sehn uns bald wieder! Freudenrufe aus der Bevölkerung. Es gab auch Tränen, dass sie bloß wiederkommen sollen. […] Teils freudig, teils ängstlich waren die Gemüter, und so war auch der Jubel. […] In dem Jubel, den man den Leuten zubrachte, da war natürlich Angst, Freude und Angst.“
Begeisterung und Jubel fanden sich weniger in der Arbeiterschaft und in ländlichen Gebieten. Jubelnde Menschen und patriotische Kundgebungen konnte man in den kleineren Städten und Dörfern nicht in dem Ausmaß beobachten wie in den größeren Städten. Auch die zurückbleibende weibliche Bevölkerung war häufig von Angst um das Überleben der männlichen Familienmitglieder sowie von Sorgen um die eigene Existenzsicherung geprägt. Für Frauen aus dem bäuerlichen Milieu bedrohte die Einberufung der Männer unmittelbar den Fortbestand der Landwirtschaft und bedeutete für sie neue Arbeits- und Leistungsanforderungen. Dies wird auch in einem von Oswald Überegger aus dem Italienischen übersetzten Auszug aus den Kriegserinnerungen der Trentinerin Amabile Maria Broz deutlich, wenn sie schreibt: „Aber ein Tag, den sicherlich niemand vergessen wird, ist der 1. August. Um sieben Uhr morgens sah ich auf der Mauer eines Hauses einen Anschlag, der alle Männer von 21 bis 40 Jahren, die schon gedient hatten, einberief. Oh je! Welch traurige Nachricht. Meine Brüder kamen am nächsten Tag, den 2. August. Ich musste um 3 Uhr morgens aufstehen und zusammen mit meiner Mutter das Frühstück vorbereiten. Ihr könnt euch vorstellen, mit welchem Appetit. Nach wenigen Bissen sind sie fort; sie hatten nicht die Kraft, sich von uns zu verabschieden. Ich bin allein zurückgeblieben mit meinen alten Eltern, im qualvollen Leid.“
Kritische oder ablehnende Haltungen zum Krieg hatten in der Berichterstattung der Zeitungen allerdings keinen Platz. Die Zensur ließ alternative Deutungsmuster und kritische Stellungnahmen nicht zu, die öffentliche Meinung wurde gleichgeschaltet und leistete der Kriegsbegeisterung Vorschub – die Stimmen der Kriegsgegner blieben dabei vielfach ungehört. Autobiographische Texte liefern jedoch ein beredtes Zeugnis davon, dass die Sorge um den ausmarschierenden Sohn oder Ehemann sowie die Angst vor dem Kommenden die Kriegseuphorie oftmals in den Schatten stellten. Der trentinische Bauer Giovanni Zontini notierte in seinem Tagebuch: „Der Zug war mit Blumen, Laub und Fahnen geschmückt, aber die Gedanken waren ernst, der Tod schien nicht weit entfernt zu sein. Die Lieder waren traurig, traurig wie die Vögel auf dem Schnee.“
Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner: Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 15-41
Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999
Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998
Hofer, Hans-Georg: Effizienzsteigerung und Affektdisziplin. Zum Verhältnis von Kriegspsychiatrie, Medizin und Moderne, in: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 219-242
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013
Sauermann, Eberhard: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar, 2000
Steininger, Rolf: Einleitung: „Gott gebe, daß diese schwere Zeit bald ein Ende nimmt.“ Tirol und der Erste Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 7-25
Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002
Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 47-53
Winkelhofer, Martina: So erlebten wir den Ersten Weltkrieg. Familienschicksale 1914–1918. Eine illustrierte Geschichte, 2. Auflage, Wien 2013
Zitate:
„Man hat ihnen Mut zugejubelt …“: Schuster, Philipp: Teils freudig, teils ängstlich [Interview], zitiert nach: Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998, 182
„Aber ein Tag …“: Kriegserinnerungen der Amabile Maria Broz, abgedruckt in: Antonelli, Q./Leoni, D./Marzani, M. B./Pontalti, G. (Hrsg.): Scritture di guerra, Rovereto 1996, 40, zitiert nach: Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, 390
„Der Zug war mit Blumen …“: Giovanni Zontini, zitiert nach: Steininger, Rolf: Einleitung: „Gott gebe, daß diese schwere Zeit bald ein Ende nimmt.“ Tirol und der Erste Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 13