„Zwei Zweige einer Nation“ – Der Tschechoslowakismus als politisches Programm

Die in der Habsburgermonarchie übliche Definition der čechoslavischen Nation umfasste die Sprecher slawischer Idiome in Böhmen, Mähren und Oberungarn. Diese wurden als Einheit gesehen, wie auch in den amtlichen Aufstellungen der sprachlichen Verhältnisse ersichtlich war, wo Tschechen und Slowaken zumeist gemeinsam erfasst wurden.

Tschechen und Slowaken sind zwei sprachlich nahe verwandte slawische Ethnien Zentraleuropas. Die Ähnlichkeit der Sprachen ließ zur Zeit der nationalen Wiedergeburt auf eine ursprüngliche ethnische Einheit schließen, die durch den Lauf der Geschichte unterschiedliche Richtungen genommen hätte. Die böhmisch-mährischen Slawen gerieten demnach unter deutschen Einfluss, während das Siedlungsgebiet der Slowaken als integrativer Bestandteil Ungarns unter magyarische Oberhoheit fiel.

In den drei Regionen bildeten sich unterschiedlich starke Landesidentitäten heraus. In Böhmen lag das Zentrum der tschechischen Nationsbildung, die böhmische Variante des Tschechischen wurde zur Norm der modernen Schriftsprache. Die mährischen Spielarten des Tschechischen erhielten den Status von Dialekten. Während sich die mährischen Tschechen in den böhmisch-tschechischen Nationsbildungsprozess einbeziehen ließen – auch dank der staatsrechtlich gleichen Position, denn beide Länder waren Teil der österreichischen Erbländer – gingen die Slowaken einen eigenen Weg.

Die Slowaken hatten im Gegensatz zu den Tschechen im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit keine eigene Schriftsprache entwickelt. Die mehrheitlich protestantische Intelligenz griff daher auf tschechische Bibelübersetzungen des 16. Jahrhunderts als Kirchensprache zurück. Dieses slowakisierte „Bibeltschechisch“ diente dann auch den Slowaken als Schriftsprache in Ermangelung einer kodifizierten slowakischen Standardsprache. Daher entwickelte sich eine gewisse kulturelle Nähe zu den Tschechen, obwohl die gesprochenen Varianten des Slowakischen sich im 19. Jahrhundert bereits sehr weit von der nun entstehenden modernen tschechischen Schriftsprache entfernt hatten.

Um 1800, als das Konzept der modernen tschechischen Nation entwickelt wurde, sah man die Slowaken aus Prager Sicht als Bestandteil der „tschechoslawischen“ Nation an. Es galt die Theorie der zwei Zweige einer Nation. Das in der Frühzeit der Nationswerdung in beiden Völkern stark verankerte Ideal der Einheit wurde später jedoch durch unterschiedliche Problemstellungen beim Emanzipationsprozess verschüttet.

Nach 1848 lag der Hauptakzent des politischen Programms der Tschechen auf der Abwehr der großdeutschen Tendenzen und auf der Sicherung der nationalen Autonomie innerhalb der Monarchie. Die slowakische Nationalbewegung widmete ihre Kräfte wiederum voll und ganz der Abwehr der Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierung.

Ein eigenständiges Bewusstsein unter den Slowaken artikulierte sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem Ľudovít Štúr (1815–1856) eine genuin slowakische Schriftsprache auf Basis der mittelslowakischen Dialekte entwickelt hatte. Es folgte eine Emanzipation der Slowaken aus der von der tschechischen Seite beanspruchten kulturellen Hegemonie. Das Bewusstsein einer gemeinsamen tschechoslowakischen Nation wurde zwar nie gänzlich aufgegeben, verlor jedoch zunehmend an politischer Bedeutung.

Erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Idee des Tschechoslowakismus reaktiviert, nicht zuletzt um im Falle der Unabhängigkeit eine zahlenmäßig starke „tschechoslowakische Staatsnation“ entwickeln und gegen die Ansprüche der Deutschen und Magyaren bestehen zu können.

Die bedeutendste programmatische Schrift des Tschechoslowakismus ist das 1918 von Tomáš G. Masaryk verfasste Werk The New Europe, das, beeinflusst von US-Präsident Wilsons Doktrin des Selbstbestimmungsrechts der Völker, eine demokratische Tschechoslowakei als zukünftige Heimat der Tschechen und Slowaken entwarf.

Die Realisierung dieses Projekts kam dann fast überraschend und aus Sicht der Slowaken durch äußere Umstände erzwungen. Erst spät wurde der slowakische Standpunkt einbezogen, als schließlich im Manifest von Pittsburgh vom Sommer 1918 eine Autonomie der Slowakei innerhalb der neu zu schaffenden Republik garantiert wurde.

In der Umsetzung hatte die junge tschechoslowakische Republik mit großen Problemen zu kämpfen. Man war mit großen Unterschieden konfrontiert, sowohl kulturell als auch in Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Tschechen waren zahlenmäßig stärker und wirtschaftlich weiter entwickelt und verstanden sich in der Slowakei als „nationale Entwicklungshelfer“. Die Slowaken wiederum sahen sich durch die „großen Brüder“ fremdbestimmt.  Das Ausmaß des Föderalismus zwischen Tschechen und Slowaken blieb eine Grundfrage in der Entwicklung der Tschechoslowakei. Die Idee des Tschechoslowakismus wurde schließlich durch die staatliche Trennung der beiden Nationen 1992 endgültig ad acta gelegt.

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Moritsch, Andreas (Hrsg.): Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas [Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Europäische Nationalismus- und Minderheitenforschung 1], Wien 1996 

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