„Hyperzensur“ und Stimmungsberichte

Während der gesamten Kriegszeit wurden nicht nur die Inhalte der Briefsendungen überwacht, sondern die Zensoren selbst unterlagen einer ständigen Kontrolle. In allen Zensurstellen erfolgte eine sogenannte „Hyperzensur“, die „von besonders zuverlässigen und erfahrenen Zensoren beziehungsweise von der Zensurleitung ausgeübt [wurde]“.
 

Generell versuchte man möglichst gut gebildete Zensoren zu verwenden, die sich auch moralisch ‚einwandfrei‘ verhielten – und beispielsweise nichts aus Feldpostsendungen stahlen. „Entscheidend für den Dienst bei der Briefzensur war jedoch, so Gustav Spann, die politische ‚Qualifikation‘“, die bei der Auswahl des Zensurpersonals überprüft wurde. Die Hyperzensoren sollten ja die Arbeit von ‚verdächtig‘ erscheinenden Mitarbeitern überwachen und deren Fehler und ‚Versäumnisse‘ korrigieren. Kam es zu einer Beschwerde über die Arbeit eines Zensors, wurde derselbe vorgemerkt. Regelmäßige Wiederholungen derartiger ‚Reklamationen‘ konnten auch zu Bestrafungen führen.

Als problematisch für ein regelkonformes Arbeiten der Briefzensoren erwies sich der Umstand, dass diese von den Militärkommandos regelmäßig zu anderen Verwendungszwecken abkommandiert wurden. Die ständigen Schwankungen innerhalb der einzelnen Mitarbeitergruppen wirkten sich zum einen negativ auf die Genauigkeit und Schnelligkeit der Zensurstellen aus, da neue Mitarbeiter wenig Erfahrung mitbrachten und ineffizient waren. Zum anderen förderte die häufige Abkommandierung keineswegs das Vertrauen zwischen der Zensurleitung und der ihr unterstellten Gruppe. Probleme ergaben sich mit der Zeit auch durch die Knappheit an Zensoren mit passenden Sprachkenntnissen und generell an qualifizierten Mitarbeitern.

Mit Fortdauer des Krieges erhielten die Zensoren eine weitere Aufgabe. Die verantwortlichen Stellen hatten erkannt, dass in den zu kontrollierenden Sendungen durchaus verwertbare Informationen über die Bevölkerung und ihre Einstellungen zum Krieg und der daraus resultierenden persönlichen Situation der jeweiligen BriefschreiberInnen enthalten waren.

Ab Ende des Jahres 1916 begann man daher damit, Monatsberichte zu verfassen, welche die Wirkung gewisser militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ereignisse auf die österreichisch-ungarische Bevölkerung ebenso dokumentieren sollten, wie die ‚Zuverlässigkeit‘ und ‚Loyalität‘ der einzelnen Nationalitäten gegenüber der Habsburgermonarchie. Zusätzlich erstellte die Zensurabteilung des Gemeinsamen Zentralnachweisbüros, die für die Zensur des Briefverkehrs der Kriegsgefangenen verantwortlich war, monatliche „Spezialberichte über die Lage der Kriegsgefangenen“  – sowohl der eigenen in ‚feindlichen‘ Ländern, als auch der ‚feindlichen‘ im eigenen Land.

Anhand zahlreicher Briefzitate konnte man so ein umfassendes Bild von der „Stimmung der Bevölkerung“ innerhalb der verschiedenen Nationalitäten der k. u. k. Monarchie zeichnen.

Diese Monatsberichte, die heute (unvollständig) im Kriegsarchiv in Wien aufbewahrt werden, zeigen beispielsweise, dass die Menschen Ende 1916 noch durchaus zuversichtlich waren. Doch bereits im Frühjahr 1917 war ein anderes Stimmungsbild zu beobachten: Die Zuversicht schwand und an ihre Stelle traten Klagen über Hunger, Schilderungen über die zunehmend schwierige Lebensmittelbeschaffung, Äußerungen über soziale Ungleichheit und Missstände sowie der Wunsch nach einem baldigen Frieden.

Bibliografie 

Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972

Spann, Gustav: Vom Leben im Kriege. Die Erkundung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung Ungarns im Ersten Weltkrieg durch die Briefzensur, in: Ardelt, Rudolf G./Huber, Wolfgang J.A. (Hrsg.): Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien 1985, 149-165

 

Zitate:

„von besonders zuverlässigen ...“: zitiert nach: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 128

„Entscheidend für den Dienst ...‘“: zitiert nach: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 152

„Als problematisch für ein regelkonformes …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 147-148

„Ab Ende des Jahres 1916 …“: Spann, Gustav: Vom Leben im Kriege. Die Erkundung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung Ungarns im Ersten Weltkrieg durch die Briefzensur, in: Ardelt, Rudolf G./Huber, Wolfgang J.A. (Hrsg.): Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien 1985, 150

„Spezialberichte über die Lage ...“: zitiert nach: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 134

„Stimmung der Bevölkerung“: zitiert nach: Spann, Gustav: Vom Leben im Kriege. Die Erkundung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung Ungarns im Ersten Weltkrieg durch die Briefzensur, in: Ardelt, Rudolf G./Huber, Wolfgang J.A. (Hrsg.): Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien 1985, 150

 

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Überwachung & Kontrolle

    Der Alltag in der Habsburgermonarchie war von Propaganda, Überwachung und Kontrolle gekennzeichnet. Die vielen „weißen“ Flecken in den Tageszeitungen zeugen davon ebenso wie Eingriffe in private Briefe und Telegramme. Gleichzeitig wurde durch Bild, Text und Ton versucht, ein einheitliches und kriegsbejahendes Stimmungsbild zu verbreiten. Ausgeschlossen davon waren nicht einmal die jüngsten Bewohner des Reiches; auch die Schulen der Monarchie wurden zu Orten der staatlichen Einflussnahme.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?