Zensur mit Tinte und Schere und das Auskundschaften von Nachrichtenmaterial

Nach der Reformierung der Briefzensur im Jahr 1916 und um die enorme Masse an Briefsendungen zensurieren zu können, richtete man Sortierstellen ein, welche die Briefe in „Sprach- und Sachgruppen“ einteilten. War gegen eine Postsendung nichts einzuwenden, kam sie, versehen mit dem Zensurstempel in die „Auslaufgruppe“, von wo sie an den Empfänger oder die Empfängerin weitergesandt wurde.
 

Briefe, die im Sinne der Zensurbestimmungen ‚verdächtig‘ erschienen, erhielt die „Dechiffriergruppe“; solche mit unkenntlich zu machenden Abschnitten gingen an die „Remediergruppe“. Briefe, welche aus inhaltlichen Gründen nicht zur Weitergabe geeignet schienen, wurden „inhibiert“ (einbehalten); solche mit nur einzelnen zu beanstandenden Worten oder Sätzen „remediert“ (unkenntlich gemacht).

Die „Remediergruppe“ entwickelte im Verlauf des Krieges immer ausgereiftere Verfahren, um Textstellen unleserlich zu machen. Ging man, so Gustav Spann, anfangs noch mit Tintenstift vor, stellte sich bald heraus, dass diese Art des Unkenntlichmachens, leicht mit einem Lösungsmittel – welches den Tintenstift zwar entfernte, auf die damals übliche Tinte jedoch fast gar nicht wirkte – wieder rückgängig gemacht werden konnte. Aufgrund dieser Erfahrungen, so wiederum Spann, wurde daher zum Beispiel Tinte nur mehr mit Tinte und Bleistiftstriche mit ebensolchen abgedeckt. Nun waren die Eingriffe der „Remedeure“ nicht mehr rückgängig zu machen, weil man damit auch gleich den eigentlichen Text mit entfernte. Ein absolut sicheres Verfahren stellte das Entfernen ganzer Sätze und Textstellen mittels Schere dar.

Neben diesen aktiven Eingriffen in die Inhalte von Briefen übernahmen die Briefzensoren und hier besonders die sogenannten „K-Gruppen“ noch eine weitere Funktion, nämlich das aktive Auskundschaften. Dieses wurde vor allem im Gemeinsamen Zentralnachweisbüro, das die Briefe und Karten der Kriegsgefangenen kontrollierte, durchgeführt. Die Aufgaben des sogenannten „Kundschaftsdienstes“ waren einerseits passiver Natur, da man die Schreiben bestimmter, der Spionage oder Desertion verdächtiger Personen, einer strengen Überprüfung unterzog und sie insbesondere auf Geheimschriften oder verdeckte Botschaften, die mit Geheimtinte verfasst worden waren, untersuchte. Darüber hinaus sollten Stellen, die von den Zensoren eines ‚Feindeslandes' unkenntlich gemacht worden waren, von der „K-Gruppe“ wieder lesbar gemacht werden.

Andererseits betrieben die Mitarbeiter dieses Dienstes auch ein aktives und gezieltes Auskundschaften. So griffen die Zensoren beispielsweise in die Schreiben von ‚verdächtig‘ erscheinenden Personen, Deserteuren und ‚Überläufern‘ ein, um von diesen – ungewollt und unwissentlich – Informationen zu erhalten. Dazu wurden sogenannte „Imitatoren“, welche die Schrift des betreffenden Schreibers nachmachen konnten, herangezogen. Eine solche inhaltliche Einfügung konnte beispielsweise und wie Gustav Spann zeigen konnte, lauten, dass ein bestimmter Geldbetrag, der an den Betreffenden versandt worden war, wegen einer ungenauen Adressangabe wieder retour gekommen wäre. Als Antwort erhielten die Zensoren dann meistens die von ihnen gewollte genaue Adressangabe des Briefschreibers.

Bibliografie 

Rebhan-Glück, Ines: „Wenn wir nur glücklich wieder beisammen wären …“ Der Krieg, der Frieden und die Liebe am Beispiel der Feldpostkorrespondenz von Mathilde und Ottokar Hanzel (1917/18), Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2010

Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972

Spann, Gustav: Vom Leben im Kriege. Die Erkundung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung Ungarns im Ersten Weltkrieg durch die Briefzensur, in: Ardelt, Rudolf G./Huber, Wolfgang J.A. (Hrsg.): Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien 1985, 149-165

 

Zitate:

„Sprach- und Sachgruppen“: zitiert nach: Spann, Gustav: Vom Leben im Kriege. Die Erkundung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung Ungarns im Ersten Weltkrieg durch die Briefzensur, in: Ardelt, Rudolf G./Huber, Wolfgang J.A. (Hrsg.): Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien 1985, 150

„Ging man anfangs noch mit Tintenstift …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 127

„Aufgrund dieser Erfahrungen wurde …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 127

„Die Aufgaben des sogenannten Kundschaftsdienstes …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 128-129

„Dazu wurden sogenannte Imitatoren …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 129

„Eine solche Einschaltung konnte …“: Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1972, 130

 

 

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Überwachung & Kontrolle

    Der Alltag in der Habsburgermonarchie war von Propaganda, Überwachung und Kontrolle gekennzeichnet. Die vielen „weißen“ Flecken in den Tageszeitungen zeugen davon ebenso wie Eingriffe in private Briefe und Telegramme. Gleichzeitig wurde durch Bild, Text und Ton versucht, ein einheitliches und kriegsbejahendes Stimmungsbild zu verbreiten. Ausgeschlossen davon waren nicht einmal die jüngsten Bewohner des Reiches; auch die Schulen der Monarchie wurden zu Orten der staatlichen Einflussnahme.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?