Hamstern, Anstellen, Selbermachen: individuelle Versorgungsstrategien werden unabdingbar
Zu Beginn des Krieges waren es vor allem exorbitante Teuerungen, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hatte. Doch bereits zu Jahresbeginn 1915 machte sich der zunehmende Mangel bemerkbar. Die Beschaffung von Gebrauchsgegenständen ebenso wie die Produktion und Konservierung von Nahrungsmitteln wurden zu dominierenden Aufgaben.
Durch intensivierte Hausarbeit, mit Geschick und erheblichem Mehraufwand musste die Verknappung der Konsumgüter ausgeglichen werden. Die Unberechenbarkeit der Zuteilung erschwerte ein geplantes Wirtschaften und Flicken, Strecken, Einkochen und Haltbarmachen wurden zu überlebenswichtigen Fähigkeiten.
In dieser Mangelsituation versuchte die Zivilbevölkerung durch individuelle Konsumstrategien die ärgste Not abzuwenden. Hausarbeit war längst schon zur überlebenssichernden Tätigkeit und Hausfrauen waren zu Managerinnen des Mangels geworden. Bereits im zweiten Kriegsjahr konnten die meisten Waren nur noch durch stundenlanges Anstellen erworben werden. Bald prägten Hunderte von anstehenden Menschen den Alltag in den Städten. Allen voran Frauen und Kinder, häufig aber auch Soldaten auf Heimaturlaub und Fabrikarbeiter reihten sich bereits in den frühen Morgenstunden in die Lebensmittelschlagen vor Geschäften und Ständen ein. So hielten die Berichte der Wiener Polizeidirektion am 2. Februar 1916 fest: „Im allgemeinen wird beobachtet, dass das Anstellen weiter zunimmt. Fast bei jedem wichtigen Bedarfsartikel sind Anstellungen zu bemerken. Die Leute stellen sich oft an, ohne zu wissen, was in dem Geschäft zu haben ist, auf Anfrage erklären sie, dass sie alles kaufen wollen, da sie alles brauchen. […] Kritische Situationen ergeben sich fast täglich nach beendigtem Mehlverkauf in der Grossmarkthalle im III. Bez., wo die Leute fast die ganzen Nächte draussen verbringen, in dem sie stundenlang warten.“
Das Warten war fixer Bestandteil des Alltags, denn nur durch Ausdauer und eine strategische Zeitplanung konnte die Chance, etwas von den geringen Mengen an Mehl, Reis oder Milch zu bekommen, erhöht werden. Da die Platzierung in der Schlange entscheidend war, harrten mit zunehmender Knappheit hungrige und frierende Kinder häufig bereits ab zwei Uhr nachts vor den Läden aus, um bei Ladenöffnung die Ersten zu sein. Doch häufig wurde die Geduld der Wartenden umsonst strapaziert, und waren sie erst an der Reihe, waren die gewünschten Waren bereits ausverkauft. Diese Erfahrung teilte auch die damals 13-jährige Anna Hörmann, die am 7. Oktober 1916 in ihrem Tagebuch notierte:
„Es bestehen jetzt so große Lebensmitteltheuerungen, so daß man kaum weiß, was man kaufen soll. […] Außerdem bekommt man es sehr schwer. Man muß stundenlang stehen und warten und bekommt zum Schluß garnichts.“
Gingen die Wartenden leer aus, kam es öfters zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, Grobheiten dominierten den Umgang miteinander und Feindseligkeiten zwischen KundInnen und HändlerInnen nahmen überhand.
Ein wichtiges Mittel der zusätzlichen Lebensmittelaufbringung war die Selbstversorgung. Städter, bislang vorrangig KonsumentInnen, wurden als ProduzentInnen aktiv und bewirtschafteten Kleingärten. Auf rund 100 bis 300 Quadratmeter großen Grundstücken wurde Obst und Gemüse angepflanzt, Kaninchen gezüchtet und Hühner gehalten. Kaiser Karl erkannte die Bedeutung der Selbstversorgung für das Überleben der Wiener und Wienerinnen und stellte der Stadt Schrebergartenparzellen auf dem Wasserwiesenareal im Prater zur Verfügung. Bis 1918 stieg die Zahl der Schrebergärten allein in Wien auf 157.300.
Doch angesichts der Not blieb der Bevölkerung häufig keine andere Wahl, als auf die blühende Schattenwirtschaft zurückzugreifen, und Frauen entwickelten subversive Strategien, um das Überleben ihrer Familien sicherzustellen. Dazu gehörten auch Handlungsweisen, die den gesetzlich vorgegebenen Rahmen sprengten, in Anbetracht der Notlage jedoch als moralisch legitim erschienen. An den Wochenenden zogen Hunderte Städter zu Hamsterfahrten in die umliegenden Dörfer und tauschten Wertgegenstände und Naturalien gegen Nahrungsmittel. Die Zahl der Diebstahlsdelikte nahm stetig zu, gefälschte Lebensmittelkarten kamen in Umlauf und Schwarzmarkt sowie Schleichhandel wurden zu überlebenssichernden Wirtschaftsräumen.
Auf behördliche Versuche, Hamsterfahrten und Hehlerei zu unterbinden, reagierte die Bevölkerung mit Verbitterung. Dem Staat, der so offensichtlich an einer ausreichenden Grundversorgung scheiterte, war das moralische Recht entzogen worden, über Strategien einer individuellen Daseinsversorgung zu urteilen. Die Behörden mussten anerkennen, dass nur die Existenz einer Parallelwirtschaft das Auskommen ganzer Städte sicherstellte.
Hautmann, Hans: Hunger ist ein schlechter Koch. Die Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Botz, Gerhard et al. (Hrsg.): Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich, 1978, 661-682
Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004
Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989
Zitate:
„Im allgemeinen wird beobachtet...“: Stimmungsberichte aus der Kriegszeit, k. k. Polizeidirektion Wien, 2. Februar 1916, Wienbibliothek im Rathaus
„Es bestehen jetzt so große Lebensmitteltheuerungen...“: Anna Hörmann, Tagebuchaufzeichnung, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien