Hunger und Protest
1916 brach die Hungerkatastrophe über die Habsburgermonarchie unaufhaltsam herein. In ihrer Not wurden Frauen zu den schärfsten Kritikerinnen des Staates und forderten ein Ende des Krieges.
Unter der bitteren Not setzte in den letzten beiden Kriegsjahren ein Umdenken ein. Nächtelanges Anstellen um immer geringere Mengen an Grundnahrungsmitteln, wiederholte Kürzungen der zugeteilten Rationen, Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitsbeamten, HändlerInnen und KundInnen, halb verhungerte Kinder und von Unterernährung gezeichnete Frauen prägten den Alltag. Angesichts der schlechten Versorgungslage stiegen Tuberkuloseerkrankungen sprunghaft an, Lungenentzündungen, Hungerödeme, Grippe und Ruhr forderten ihre ersten Opfer. Die Zahl der Todesfälle in der Zivilbevölkerung stieg um ein Vielfaches und angesichts der psychischen Belastungen prägten Aggressivität und Feindseligkeiten das Miteinander.
In Wien kam es im Mai 1916 zu ersten Lebensmittelunruhen. Gruppen ausgezehrter Jugendlicher plünderten Lebensmittelwägen und schlugen Schaufenster ein, Frauen formierten sich zu Protestzügen und marschierten Richtung Innenstadt, um ihren Unmut kundzutun. Die Polizei reagierte mit einer Welle von Verhaftungen und verhängte Ausgangssperren. Noch sorgte die Zensur dafür, dass über diese ersten Hungerkrawalle in den Zeitungen nichts zu lesen war. Doch die Staatsmacht hatte die Heerscharen Schlange Stehender scharf im Auge, fürchtete sie doch, diese könnten sich zu Protesten und Revolten formieren.
Tatsächlich artikulierte sich die Wut der Bevölkerung über sinkende Lebensmittelrationen in den kommenden Jahren in einer Serie spontaner Krawalle und Kundgebungen. Am 18. Mai 1916 notierte die k. k. Polizeidirektion: „Die erregte Stimmung der Bevölkerung hat am 11. d.M. am Markte Eugenplatz im X. Bez, [sic!] zu Ausschreitungen (Hungerkrawalle) geführt, die in den folgenden Tagen auch auf die Bezirke Rudolfsheim und Schmelz übergriffen. Auch auf den Märkten der übrigen Bezirke […] gab es erbitterte Massenansammlungen […]. Die Demonstrierenden stiessen vorzugsweise Rufe aus, wie ‚Wir haben Hunger, wir müssen mit unseren Kindern hungern, gebt uns was zu essen, nieder mit den Preistreibern, wir wollen Frieden haben‘ etz.“
Getragen wurden diese Hungerproteste mehrheitlich von Frauen, die so Einfluss auf die „hohe Politik“ gewannen. Als im Jänner 1918 die Mehlzuweisungen ein weiteres Mal eingeschränkt wurden, brachen in fast allen Gebieten der Monarchie Streiks aus. Die Sozialdemokratie stellte sich an die Spitze des Ausstandes und artikulierte wirtschaftliche wie politische Forderungen. Die Streiks setzten sich im Jahresverlauf 1918 fort, protestiert wurde gegen Teuerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und die miserable Lebensmittelversorgung.
Im Frühsommer 1918 erreichten die sozialen Spannungen zwischen Stadt und Land ihren Höhepunkt. Ende Juni, als die Brotrationen erneut um die Hälfte reduziert werden sollten, war die Geduld der hungrigen Städter zu Ende. Angeheizt durch Gerüchte über zurückgehaltene Lebensmittel und die unverschämten Schwarzmarktpreise marschierten Tausende Wiener und Wienerinnen in die umliegenden Ortschaften. Dort plünderten Frauen, Kinder und Soldaten die Felder, zwangen die Landwirte zur Ausgabe von Lebensmitteln und drohten mit Gewalt. Die Auseinandersetzungen gingen bis Juli 1918 weiter. Die Belastbarkeit der Zivilbevölkerung stieß an ihre Grenzen und weite Teile der Gesellschaft waren nicht länger gewillt, diesen Krieg mitzutragen.
Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987
Bauer, Ingrid: Frauen im Krieg. Patriotismus, Hunger, Protest – weibliche Lebenszusammenhänge zwischen 1914 und 1918, in: Mazohl-Wallnig, Brigitte (Hg.): Die andere Geschichte 1. Eine Salzburger Frauengeschichte von der ersten Mädchenschule (1695) bis zum Frauenwahlrecht (1918), 285-310
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Zitate:
„Die erregte Stimmung der Bevölkerung...“: Stimmungsberichte aus der Kriegszeit, k. k. Polizeidirektion Wien, 18. Mai 1916, Wienbibliothek im Rathaus