Ersatzmittel und Surrogate sollen Abhilfe schaffen

Um Engpässe in der Grundmittelversorgung auszugleichen, war Improvisation gefragt. Allerlei Ersatzmittel fanden Einzug in die Küchen der Monarchie und wurden zum Symbol einer gescheiterten Grundversorgung.


 

Unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Versorgungsnot wurde der Rahmen dessen, was als Nahrungsmittel eingestuft wurde, stetig erweitert. Die miserablen Verhältnisse zwangen die Bevölkerung dazu, ihren vertrauten Speiseplan nicht nur einzuschränken, sondern auch um eine ganze Palette neuer Lebensmittel zu erweitern. Das Geschick, bislang Ungenießbares schmackhaft zu machen, wurde zur existenziellen Eigenschaft.

Auf dem Markt erschienen Kriegskochbücher, deren Titel einen eindeutigen Tenor vorgaben: „Das sparsame Kochen“, „Es muss reichen! Sparsame Volksernährung eine Bedingung unseres Sieges“ und „Kochbüchlein für knappe Zeiten“ enthielten praktische Tipps und Tricks und vermittelten den Mangel ausgleichendes Wissen. Sparsamkeit avancierte zum Schlagwort der Stunde und die Vorgaben des „vaterländischen Haushaltens“ banden ihre AdressatInnen in den Wirtschaftskrieg ein. Die 1918 im Wiener Prater stattfindende Ersatzmittelausstellung widmete sich ausführlich dem Thema Ersatz und präsentierte unterschiedliche Ausgleichsprodukte. Darüber hinaus riefen Plakate die Bevölkerung zu Sammelaktionen auf, um gemeinschaftlich Rohmaterialien für Kompensationszwecke zusammenzutragen:
„Besonders jene Kreise, welche nicht durch landwirtschaftliche Arbeiten in Anspruch genommen sind, erfüllen eine patriotische Pflicht, wenn sie so viel als möglich der wild wachsenden Nahrungs- und Futterstoffe einsammeln. Groß und klein, alt und jung beteilige sich an der Sammlung, um das Durchhalten durch den nächsten Winter nach Möglichkeit zu erleichtern“

Hochwertige Lebensmittel wurden mit minderwertigen gestreckt und Abfälle auf ihre Wiederverwertbarkeit getestet. Kartoffeln wurden als Ersatz für Mehl, in Fleischspeisen und in Form von Pudding und Würsten verwendet. Als selbst Kartoffeln aufgrund schlechter Ernten rar wurden, dienten Steckrüben als Ersatz für den Ersatz. An die Stelle von frischem Gemüse trat Dörrobst und bereits im Oktober 1914 wurde Weizen- und Roggenbrot mit Gerste, Mais und Kartoffeln gestreckt. Das sogenannte „Kriegsbrot“ bestand aus einer Mischung minderwertiger Mehlsorten, denen Bohnen und Gräser beigemengt wurden. 1918 bestand dieses beinahe nur noch aus Maismehl und das „Maisgespenst“ wurde zur Metapher der katastrophalen Ernährungslage.

Ersatzkaffee wurde aus Zichorien oder Eicheln hergestellt und allein für Tabak existierten über 70 verschiedene Streckmischungen, meist eine Kombination aus Tabak, Buchenlaub und Hopfen. 1915 bestand die sogenannte „Kriegswurst“ zu je einem Drittel aus Kartoffeln, Blutalbumin (einem Fleischersatz) und minderwertigen Fleischabfällen. Die Verordnung zweier fleischloser Tage pro Woche im Mai desselben Jahres empfanden viele Menschen bereits als  Ironie, da aufgrund der Einfuhrzölle und Massenankäufe durch die Militärverwaltung Fleisch schon längst keine tägliche Selbstverständlichkeit mehr darstellte.

Aus Obstkernen, Rosskastanien und Bucheckern wurden Öle gepresst. Zur Gewinnung von Fetten zog man Knochen und Kadaver heran und baute Fettfänger in die Abwasserrohre von Wirtshäusern ein. Als die Not kaum mehr zu bewältigen und die Haushaltsarbeit längst zur Überlebensarbeit geworden war, versuchte man mit Wildkräutern, Wurzeln und Gräsern den ärgsten Hunger zu stillen.

Problematisch war aber nicht nur der Mangel an nahrhaften Lebensmitteln, sondern ebenso die mindere Qualität der Ersatzprodukte. Mehlsorten waren häufig von Motten oder Kornrüsselkäfern befallen, Brot aus wertlosen Mehlen schimmelte schnell und war ungenießbar. Doch in Anbetracht des akuten Mangels wurden selbst kaum nahrhafte Surrogate und bis zur Unkenntlichkeit gestreckte Nahrungsmittel zu horrenden Preisen feilgeboten. Darüber hinaus versuchten Händler, aus der Not Profit zu schlagen und brachten Surrogate auf den Markt, die aus kaum mehr als Färbemitteln und Zellulose bestanden und mitunter nicht nur wertlos, sondern auch gesundheitsgefährdend waren.

Bibliografie 

Hautmann, Hans: Hunger ist ein schlechter Koch. Die Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Botz, Gerhard u.a. (Hg.): Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich, 1978, 661-682

Mertens, Christian: Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Ernährung Wien, in: Pfoser,Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 162-171

Zitate:

„Besonders jene Kreise...“: Merkblatt über das Sammeln und die Verwertung von Waldfrüchten, Futtermittelzentrale Wien, vermutlich 1916, Österreichische Nationalbibliothek, Signatur: KS 16215537

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?