Die „Balkanisierung“ des Balkans – Der Emanzipationskampf der Völker als Störfaktor

Der Balkan wurde im 19. Jahrhundert zum Schauplatz für die wachsenden Emanzipationsbestrebungen der verschiedenen Völker der Region. Die Ideale der französischen Aufklärung und der Nationsgedanke waren wie überall in Europa auch hier auf fruchtbaren Boden gefallen.

Die im Vergleich zu Westeuropa verspätete Nationswerdung führte in Verbindung mit der sozialen und ökonomischen Rückständigkeit der Region zu einer Art Realitätsflucht, die ihren Ausdruck in historisch verbrämten Machtphantasien fand. In der Wiedererrichtung idealisierter und imaginierter mittelalterlicher Großreiche („Großserbien“, „Großbulgarien“, etc.) wurde die Lösung aller Hemmnisse gesehen, was jedoch aggressive Hegemonieansprüche gegenüber anderen Religions- und Sprachgruppen nach sich zog.

Die jungen Nationalstaaten des Balkans, die untereinander wegen der divergierenden nationalen Extremismen zerstritten waren, vereinte nur das gemeinsame Feindbild der türkischen Herrschaft, der die alleinige Schuld an den Problemen gegeben wurde. Die Führer der sich gerade bildenden serbischen, bulgarischen oder rumänischen Nationalgesellschaften begannen nun das türkische Reich herauszufordern.

Der Sultan verfügte nicht mehr über die Machtmittel, diese separatistischen Bewegungen auszuschalten. Ähnlich wie im Vielvölkerreich der Habsburger reagierte man mit einem Wechselspiel von Duldung und Repression. Der Hohen Pforte gelang es aber nicht, die territoriale Einheit zu bewahren. Die Autorität des Sultans bestand in den Randgebieten des Osmanischen Reiches oft nur formal, denn die tatsächliche Herrschaft wurde von lokalen Potentaten ausgeübt. Istanbul war gezwungen, zunächst eine beschränkte Unabhängigkeit dieser Territorien anzuerkennen. Es entstand ein Kranz von Vasallenstaaten, die dem Sultan tributpflichtig waren und weiterhin unter dessen formaler Oberhoheit standen. Zu diesen Ländern zählten in der Balkanregion Serbien (ab 1817), die Walachei und Moldau, die 1859/61 zum Fürstentum Rumänien vereinigt wurden, und schließlich Bulgarien (1878). Die Bildung dieser tributären Staaten war ein Zugeständnis des Sultans, um sein Gesicht zu wahren, während er die tatsächliche Herrschaft bereits verloren hatte. In den Augen der jungen Nationen war dies jedoch nur eine Zwischenstufe, denn die völlige Unabhängigkeit von der „osmanischen Tyrannei“ war das langfristige Ziel.

Serbien fiel in den Unabhängigkeitsbestrebungen eine besondere Rolle zu. In den Jahren 1804–1812 fand eine Reihe serbischer Volksaufstände gegen die osmanische Herrschaft statt. Vergeblich suchte man im von den napoleonischen Kriegen gebeutelten Europa nach Verbündeten. Österreich lehnte mit Hinweis auf das bestehende Bündnis mit dem  Osmanischen Reich eine Einmischung zugunsten der Serben ab. Daher fiel die Rolle einer Schutzmacht der serbischen Emanzipation nun Russland zu, ideologisch untermauert durch die gemeinsamen religiösen Traditionen der Orthodoxie.

Die negative Haltung Österreichs gegenüber der serbischen Nationalstaatsbildung war  aber vor allem in der Tatsache begründet, dass Wien einen unabhängigen serbischen Staat als Gefahr für die eigene Existenz als Vielvölkerstaat sah. Denn die Serben (und in weiterer Folge auch andere südslawische Volksgruppen) unter österreichischer Herrschaft würden früher oder später die Vereinigung mit dem serbischen Nationalstaat fordern. Die österreichische Politik war daher bestrebt, Serbien in der Ausweitung seiner Macht als regionale Kraft nach Möglichkeiten einzudämmen. 

Bibliografie 

Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    "Pulverfass Balkan"

    Der Niedergang des Osmanischen Reiches löste ein Machtvakuum aus, in das neue Kräfte stießen. Am Balkan entwickelte sich ein instabiles Wechselspiel zwischen den Interessen der Großmächte und den nationalen Programmen der erwachenden Völker in Südosteuropa.

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.