Aufgrund der inneren Schwäche war das Osmanische Reich, einst gefürchteter Eroberer, nun selbst Ziel imperialistischer Ambitionen europäischer Kolonialmächte geworden.
Das Osmanische Reich wurde von vielen Seiten bedrängt: Die Briten bauten ihre Stellung im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten aus, die Franzosen und später auch die Italiener errichteten Kolonien in Nordafrika, die Russen erweiterten ihre Einflusssphäre im Schwarzmeergebiet und im Kaukasus.
Russland sah sich als Schutzmacht der christlich-orthodoxen Balkanvölker, und das utopische Fernziel war die Eroberung Konstantinopels, der ehemaligen Hauptstadt des Byzantinischen Reiches. Geopolitisch war die Beherrschung der Meerenge des Bosporus und der Dardanellen von enormer strategischer Bedeutung für Russland, das sich damit den Zugang zum Mittelmeer öffnen wollte. Russland versuchte, sich nicht nur als Macht am Nordmeer, sondern auch im Süden Europas etablieren.
Die divergierenden Interessen der europäischen Mächte gipfelten 1853 im Ausbruch des Krimkrieges. Es bildete sich eine antirussische Allianz, womit die westeuropäischen Großmächte den Aufstieg Russlands eindämmen wollten. Großbritannien hatte größtes Interesse an der Erhaltung des Osmanischen Reiches, das eine schwache, leicht zu kontrollierende Regionalmacht war, die keine Bedrohung für die kolonialen Interessen – in erster Linie ist hier die Verbindung nach Indien über den schließlich 1869 eröffneten Suez-Kanal zu nennen – darstellte. Dem Sultan fiel bei all dem eher die Rolle eines Objekts denn die eines handelnden Subjekts zu. Zar Nikolaus I. prägte in diesem Zusammenhang den Ausspruch vom „Kranken Mann am Bosporus“.
Das Verhältnis der Habsburgermonarchie zum Osmanischen Reich war dagegen relativ friktionsfrei. Die letzten Türkenkriege hatten unter Joseph II. stattgefunden und mit einer Niederlage Österreichs geendet. Denn der vermeintlich schwache türkische Gegner hatte sich sehr wehrhaft gezeigt. In der Folge änderte sich das Verhältnis zwischen den beiden Reichen, die traditionelle Gegnerschaft wandelte sich zu einer Partnerschaft. An die Stelle von Eroberungskriegen traten nun Handelsabkommen. Im 19. Jahrhundert hatte sich die freundschaftliche Achse zwischen Wien und Istanbul gefestigt.
Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999
Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999
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Kapitel
- Unter dem Halbmond: Das Osmanische Reich und Europa
- „Der kranke Mann am Bosporus“ – Eine Großmacht im Niedergang
- Die „Balkanisierung“ des Balkans – Der Emanzipationskampf der Völker als Störfaktor
- Bosnien und die österreichischen Großmachtbestrebungen am Balkan
- Der Berliner Kongress und die Aufteilung des Balkans
- Die Annexionskrise 1908
- Die Balkankrise 1912/13 – ein Vorspiel für den Weltkrieg