Unter dem Halbmond: Das Osmanische Reich und Europa

Im 19. Jahrhundert konnte das Osmanische Reich nur mit Mühe seine Großmachtstellung aufrechterhalten. Die Notwendigkeit, das riesige Reich zu modernisieren, wurde immer dringender, da auf vielen Gebieten die Rückständigkeit gegenüber den europäischen Mächten unübersehbar geworden war.

Das Reich des Sultans war Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch eine Großmacht, zumindest was die Ausdehnung seines Territoriums betraf, das große Teile Südosteuropas, die südliche Schwarzmeerregion, das östliche Mittelmeer, Teile Nordafrikas und den arabischen Raum umfasste. Das Osmanische Reich war flächenmäßig rund fünfmal so groß wie die Habsburgermonarchie, hatte jedoch annähernd dieselbe Bevölkerungszahl. Auch in einer anderen Hinsicht waren die beiden Reiche vergleichbar: Wie Franz Joseph war auch der Sultan Herr über ein Vielvölkerreich, in dem ca. 11,5 Millionen ethnische Türken als Staatsvolk ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten, von der nur 55 % Muslime waren.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchlief das Osmanische Reich ein Zeitalter der Reformen, das als Tanzimat-Epoche bezeichnet wird und 1876 mit der Annahme einer Verfassung seinen Höhepunkt fand. Es waren dies Reformen „von oben“, die auf Druck der Eliten eingeleitet worden waren. Bald aber zeigten sich die fehlenden sozialen Voraussetzungen für die Pläne zur Industrialisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft. Palastrevolutionen, bürgerkriegsähnliche Zustände und ein ständiger Wechsel zwischen Reform und Reaktion schwächten die Wirksamkeit der Maßnahmen ab.

Das Machtvakuum im Zentrum führte in den Randgebieten des Reiches  – v. a. am Balkan und im arabischen Raum – zu Aufständen gegen die osmanische Oberhoheit. Lokale Potentaten stellten die Autorität des Sultans infrage, der wiederum mit Gewalt reagierte, ohne wirklich die Kontrolle über die Geschehnisse zu erlangen, wodurch bald anarchische Zustände herrschten. 

Gleichzeitig wurde die „orientalische Frage“ nun auf das internationale Tapet gebracht. Die europäischen Großmächte forderten die Besserstellung der christlichen Völker im Balkanraum. Der Freiheitskampf der Griechen, der 1830 in der Unabhängigkeit des Landes vom Osmanischen Reich gipfelte, fand in Europa ein großes Echo. Das antike Erbe stand hoch im Kurs. In der Begeisterung für die hellenische Kultur feierte man den Sieg des „europäischen Geistes“ über die „orientalische Despotie“.

Das Osmanische Reich, in inneren Unruhen gefangen, musste auf Zugeständnisse eingehen. So wurde in der Verfassung von 1876 erstmals die Gleichstellung der nicht-muslimischen Untertanen des Sultans mit den Moslems garantiert, was eine der Hauptforderungen der europäischen Mächte gewesen war. 

Bibliografie 

Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

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