Der Berliner Kongress brachte keine dauerhafte Lösung für den Balkan. Hinter der Fassade eines nur mühsam aufrechterhaltenen Friedens schwelten die alten Konflikte weiter. Auf den Balkan waren auch die Großmachtambitionen Österreich-Ungarns fokussiert, das seine innere Schwäche durch einen außenpolitischen Gewaltakt kaschieren wollte.
In den 1880er Jahren vergrößerte Österreich-Ungarn seinen Einfluss auf dem Balkan. Serbien wurde unter der pro-österreichisch orientierten Dynastie Obrenović zu einem Satellitenstaat mit starker ökonomischer Abhängigkeit von Wien. Rumänien hingegen fand in Wien einen Partner gegen russische Expansionsgelüste, die auf rumänische Gebiete im Schwarzmeergebiet abzielten. Das freundschaftliche Verhältnis zu diesen Staaten bedeutete für die Habsburgermonarchie eine innenpolitische Entlastung der Nationalitätenproblematik, da die außenpolitische Allianz die separatistischen Tendenzen der Serben und Rumänen in Ungarn entschärfte. Das Thema blieb jedoch eine schwere Hypothek, denn die fortdauernde Benachteiligung der serbischen bzw. rumänischen Sprachgruppe in der ungarischen Reichshälfte konnte auf Dauer von den jeweiligen Mutterländern nicht ignoriert werden.
1903 kam es zu einem dramatischen Systemwechsel in Serbien, als König Alexander Obrenović im Zuge einer Palastrevolution ermordet wurde. Der neue Machthaber König Peter I. aus der Dynastie Karađorđević brachte das Land auf großserbischen und pro-russischen Kurs mit gravierenden Folgen für die Beziehung zu Österreich-Ungarn. Wien antwortete zunächst mit einem Wirtschaftskrieg: Nachdem Serbien einen an die Škoda-Werke vergebenen Großauftrag storniert und diesen als Zeichen der Annäherung an Frankreich auf eine französische Firma übertragen hatte, verhängte Österreich-Ungarn ein Handelsembargo über Serbien („Schweinekrieg“), das die für die serbische Wirtschaft existenziellen Agrarexporte in eine tiefe Krise stürzte.
In der Folge kam eine unheilvolle Bewegung in die Balkanpolitik: Russland meldete erneut seinen Anspruch auf Führerschaft in der Region an. In der Gestalt Italiens startete ein weiterer Player seine expansive Balkanpolitik, die auf Albanien abzielte. Auch Österreich-Ungarn trat seit 1906 am Balkan außenpolitisch wieder stärker auf. Der Hintergrund hierfür war der Versuch, dadurch die innere Krise zu überspielen bzw. diese durch forcierte Aktivitäten zu lösen.
Dies gipfelte 1908 in der Annexion Bosniens und der Herzegowina. Was als innenpolitischer Katalysator geplant war, erwies sich jedoch als verhängnisvoll. Denn die Eingliederung von Bosnien-Herzegowina in die Doppelmonarchie wurde zu einem schier unlösbaren Problem zwischen den beiden Reichshälften. Da keine Einigung erzielt werden konnte, welcher Reichshälfte man das Gebiet zuschlagen sollte, wurde Bosnien-Herzegowina in einer Art Kompromisslösung zu einem durch das gemeinsame k. u. k. Finanzministerium verwalteten Kondominium.
Noch gravierender waren die außenpolitischen Folgen: Die Annexion wurde – obwohl es sich dabei um die Inbesitznahme eines Territoriums, das de facto schon Teil der Monarchie war, handelte – international als staatsrechtlich aggressiver Akt wahrgenommen, der zwischenstaatliche Abkommen verletzte.
Serbien und Russland sahen darin eine Provokation und drohten mit Krieg. Die Lage konnte nur deeskaliert werden, indem sich Deutschland demonstrativ hinter Österreich-Ungarn stellte, was Wien in eine noch stärkere Abhängigkeit von Berlin manövrierte. Die österreichische Balkanpolitik hatte die Monarchie in eine brenzlige Situation geführt, denn man war knapp an einem Krieg vorbeigeschrammt. Von Teilen der Armee war eine militärische Lösung unter dem Schlagwort eines „Präventivkrieges“ sogar gewünscht worden: Der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf sprach sich offen für eine „Abrechnung mit Serbien“ aus.
Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010
Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999
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Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Unter dem Halbmond: Das Osmanische Reich und Europa
- „Der kranke Mann am Bosporus“ – Eine Großmacht im Niedergang
- Die „Balkanisierung“ des Balkans – Der Emanzipationskampf der Völker als Störfaktor
- Bosnien und die österreichischen Großmachtbestrebungen am Balkan
- Der Berliner Kongress und die Aufteilung des Balkans
- Die Annexionskrise 1908
- Die Balkankrise 1912/13 – ein Vorspiel für den Weltkrieg