Die Balkankrise 1912/13 – ein Vorspiel für den Weltkrieg

Die unverminderten territorialen Erweiterungsgelüste unter den regionalen Mächten sorgten dafür, dass die Balkankrise eine Konstante im politischen Geschehen Europas blieb.

Die Annexion von Bosnien-Herzegowina 1908 führte trotz der Rückgabe des besetzten Sandschak Novi Pazar an das Osmanische Reich zu einer Isolierung Österreich-Ungarns in Südosteuropa. Wien hatte sich Serbien endgültig zum Feind gemacht, und die Beziehungen zu Russland waren auf dem Tiefststand. Die unüberlegte Aktion trieb außerdem die Einigung der zerstrittenen Balkanstaaten voran: Unter russischer Patronanz schlossen diese ein Bündnis zum Zwecke der Aufteilung der europäischen Türkei, was die Situation am Balkan neuerlich verschärfte.

Der 1912/13 geführte Erste Balkankrieg war ein Angriffskrieg der jungen Nationalstaaten Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland gegen das Osmanische Reich, das, international isoliert, den Großteil seiner Territorien auf der Balkanhalbinsel verlor. Der Konflikt war auch ein Stellvertreterkrieg zwischen den Großmächten, die durch Bündnisverträge indirekt ihre Rivalitäten ausspielten. Ein weiterer Krieg, der im Sommer 1913 zwischen Serbien und Bulgarien ausbrach, verwirrte die Lage auf dem Balkan zusätzlich.

Nachdem Serbien nun das Maximum seiner territorialen Forderungen gegenüber dem Osmanischen Reich durchgesetzt hatte, war aus dem Blickwinkel Belgrads die Habsburgermonarchie, die bereits durch die Annexion von Bosnien-Herzegowina als Besatzer eines Gebiets, das in der serbischen nationalen Propaganda als „urtümlichster Teil des Serbentums“ stilisiert wurde, zum größten Hindernis auf dem Weg zum ersehnten Großserbien geworden. National-revolutionäre Kreise der serbischen Intelligenz forderten vehement die Vereinigung der südslawischen Siedlungsgebiete der Habsburgermonarchie mit Serbien. Eine Organisation, die sich dieser Idee verschrieben hatte, war die Schüler- und Studentenverbindung Mlada Bosna (Junges Bosnien), aus deren Reihen auch der spätere Attentäter von Sarajewo, Gavrilo Princip, stammte.

Das Fernziel war ein südslawisches Großreich, das von der Adria bis zum Schwarzen Meer reichen sollte, wobei den Serben als der zahlenmäßig stärksten Nation in der Region die Führungsrolle zufallen sollte. Serbien hatte sich binnen weniger Jahrzehnte zu einer entscheidenden regionalen Kraft entwickelt. Bezeichnend für den Furor der nationalen Begeisterung war die Idee einer nationalserbischen Militärdiktatur, die unter extremen Nationalisten in der Armee aufkam. Radikale Untergrundorganisationen wie Ujedinjenje ili smrt (dt.: Vereinigung oder Tod), besser bekannt als Crna Ruka (dt.: Schwarze Hand), unterwanderten den Staatsapparat mit dem Ziel, mittels Terror vermeintliche „Volksfeinde“ auszuschalten.

Österreich-Ungarn agierte offen gegen die serbischen Expansionsbestrebungen. Wien inszenierte sich als Bewahrer des Gleichgewichts der Kräfte am Balkan und als Bollwerk  gegen den eskalierenden Nationalismus der Balkanvölker. Ein Erfolg der antiserbischen Politik Österreichs war die Durchsetzung der Gründung Albaniens als unabhängiger Staat 1912/13. Es war dies vor allem eine Maßnahme, den Aufstieg Serbiens einzudämmen, denn dadurch wurde Belgrad, das seit Längerem Aspirationen auf dieses Gebiet hegte, der Zugang zum Mittelmeer verwehrt.  

Dies war aber der einzige „Erfolg“ der österreichischen Balkanpolitik. Die internationale Krise, die der Annexion von Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn gefolgt war, hatte das Kräfteverhältnis am Balkan massiv verändert, sowohl unter den Balkanstaaten selbst, als auch unter den Großmächten, die aufgrund komplizierter Bündnisvereinbarungen in die Wirren hineingezogen wurden. In dieser labilen Situation war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo der sprichwörtliche Funke, der das Pulverfass schließlich zur Explosion brachte. 

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999

Džaja, Srećko: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918) (Südosteuropäische Arbeiten 93), München 1994

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

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Entwicklungen

  • Entwicklung

    "Pulverfass Balkan"

    Der Niedergang des Osmanischen Reiches löste ein Machtvakuum aus, in das neue Kräfte stießen. Am Balkan entwickelte sich ein instabiles Wechselspiel zwischen den Interessen der Großmächte und den nationalen Programmen der erwachenden Völker in Südosteuropa.