Vom Fahren und Reisen: Fremdenverkehr und Tourismusfilme
Der Erfahrungshorizont der Menschen des 19. Jahrhunderts hatte sich erweitert, die Welt war größer und zugleich überschaubarer geworden. Dazu beigetragen hatten einerseits die neuen, schnelleren Transportmöglichkeiten, andererseits aber auch die Kinematographie.
Durch die Mobilisierung des Blicks ermöglichte das Kino neue Formen der Wahrnehmung. Von erhöhten Standpunkten wurden Land- und Ortschaften in Panoramaschwenks abgelichtet. Noch deutlicher nachempfindbar machten die Reiseerfahrung allerdings die „phantom rides“: In Bewegung befindliche Fahrzeuge (Züge, Busse, Autos, Schiffe) dienten als mobile Aufnahmestandpunkte, die neue Formen der Landschaftsinszenierung und -erlebbarkeit ermöglichten. Der Kinematograph bot dem Publikum Ersatzreisen an. „In wenigen Minuten“ könne man „unzählige Gegenden durcheilen“, „Ereignissen beiwohnen“, die man „niemals hätte sehen können“, um zugleich das persönliche „Wissen umfassend zu bereichern“ („Österreichischer Komet“, Nr. 5, 1908).
Auch traf der erste Höhepunkt der Kinematographie mit den Vorboten des Massentourismus zusammen. Die Landpartie, vorerst zu Fuß oder per gemieteter Kutsche, dann im Zug, später mit dem Fahrrad oder gar Automobil, wurde zur großen Errungenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Intellektuelle Städter eroberten die Alpen. Finanzkräftige Sommerfrischler zogen mit dienstbarer Gefolgschaft in den Wienerwald, die Südbahn-Gegend, in das Salzkammergut, an die Adria, die dalmatinische Küste, nach Südtirol, in das Wildbad Gastein, in die südsteirischen Bäder oder an die Kärntner Seen.
Schnell wurde das Werbepotenzial der Reisebilder erkannt und genutzt. Die Präsentation der österreichisch-ungarischen Landschaften und Attraktionen oblag aber vorerst ausländischen Erzeugern. 1907 produzierte die britische Charles Urban Trading Co. mit Unterstützung des k. k. Eisenbahnministeriums etwa das Bild „Schönheiten Tirols“. Schließlich zeigten auch die staatlichen Behörden zusehends Interesse an der kinematographischen Tourismuspropaganda. 1911 schickte das österreichische Arbeitsministerium zwei höhere Beamte für die Fremdenverkehrswerbung auf Reisen. Die Männer waren mit entsprechenden Filmen ausgestattet und hatten in allen großen Städten Europas Vorträge zu halten. Unter den mitgeführten Streifen fanden sich Aufnahmen aus Tirol, Salzburg und der Oststeiermark. Weitere kinematographische Landschaftsbilder österreichischer Herkunft wurden großen deutschen Kinobetreibern kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Die 1913 von der Wiener Zweigstelle der Firma Eclair produzierte Serie „Österreich im lebenden Bilde“ warb weltweit für den Besuch der heimischen Regionen. Zwei Filme der Produktionsreihe erregten besondere Aufmerksamkeit. Das Außergewöhnliche an ihnen war, dass sie burleske Episoden vor dem Hintergrund interessanter landschaftlicher Szenerien darboten. Die komische und mitunter dramatische Handlung stand so im Mittelpunkt des Geschehens, die „Naturschönheiten Österreichs“ boten dazu den pittoresken Rahmen: Der Film „Evas Rosengarten“ (A 1913) führt eine junge Amerikanerin von Wien nach Südtirol. An der Seite eines schneidigen Bergführers passiert sie gefährliche Felsen, lernt Volk und Brauchtum kennen, bestaunt die Grödener Tracht wie auch die regionale Holzschnitzkunst. Letztlich begeistert sie sich nicht nur für die mannigfaltige Pracht der Dolomiten, sondern auch für ihren Begleiter. Im Streifen „Zwischen zwei Feuern“ (A 1913) wird der Lebemann Gottlieb von seinem Arzt zu einem Ruheaufenthalt auf dem Semmering angehalten. Auf seinen Spaziergängen begegnet der Filou jeweils einer brünetten und einer blonden Dame, die er beide fortan umschwärmt. Die beiden jungen Frauen schreiben indessen ihren Ehemännern von den Zudringlichkeiten Gottliebs, was zur Anreise der Gatten und der nachfolgenden Flucht des vermeintlichen ‚Frauenverstehers‘ führt. Im Verlauf der Humoreske wurde dem Publikum fast das ganze Semmeringgebiet visuell dargeboten. „Die geschickt gewählte musikalische Begleitung“, berichtete die „Filmkunst“ (Nr. 11, 1914), verstärkte „die suggestive Kraft der humoristischen Aufnahmen“.
Zu den zentralen Herstellern österreichischer Reisefilme (Travelogues) vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zählte bis inklusive 1912 das Team Kolm-Veltée-Fleck, danach dominierte Sascha Kolowrat diesen Bereich der Laufbildproduktion. Nur wenige dieser Aufnahmen sind noch erhalten. Der Streifen „Bozen und der Luftkurort Gries“ (A 1913) offeriert nicht nur touristisch wirkungsvolle Eindrücke der Gegend, sondern bietet zudem einen stimmungsvollen „phantom ride“ mit der Guntschnaer Drahtseilbahn.
Deeken, Annette: Geschichte und Ästhetik des Reisefilms, in: Jung, Uli/Loiperdinger, Martin (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Band 1, Kaiserreich 1895–1918, Stuttgart 2005, 299-323
Eigner, Peter/Helige, Andrea (Hrsg.): Österreichische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/München 1999
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Kapitel
- Filmische Faszination: die Maschine in der Kriegspropaganda
- Mobiles Erwachen im Film: Das Erobern neuer Räume
- Geschwindigkeitsrausch im Film: Heroen der Fahrbahn und der Lüfte
- Vom Fahren und Reisen: Fremdenverkehr und Tourismusfilme
- Filmischer Ausnahmezustand: Der Wiener Prater
- Bewegungsfreiheit gefilmt – Sport, Turnier- und Körperkultur
- Masse und Macht: Politische Bewegungen in zeitgenössischen Filmdokumenten