„Die Schuld ist immer zweifellos!“ Franz Kafkas „In der Strafkolonie"

Wie auch andere Erzählungen ist Kafkas In der Strafkolonie aus einer Art Schreibhemmung entstanden (er kam mit dem Schluss von Der Process nicht weiter). Kafka schrieb die Erzählung im Oktober 1914, sie wurde aber erst 1919 in einer einmaligen Auflage von 1.000 Exemplaren veröffentlicht. Die Schuld- und Strafphantasien aus dem Process finden sich auch In der Strafkolonie wieder. In einer zentralen Passage heißt es: „Die Schuld ist immer zweifellos“.

Kafka machte eine grausame Folterung während des Kriegs zum Thema, was bis dahin in literarisierter Form selten der Fall war. Vorwürfe von Rezensenten, er hätte sich aus Sensationslust mit dieser Thematik beschäftigt, ignorierte Kafka mit Hinweis auf die gewalttätige Gegenwart.

Kafka hatte Le Jardin des Supplices (1899) des französischen Journalisten Octave Mirabeau gelesen. Von dort entlehnte er die Figur des europäischen Reisenden, der teils fasziniert, teils angewidert die sadistischen Strafpraktiken einer zivilisationsfernen Insel besichtigt. In der Erzählung wird das Rechtssystem einer Strafkolonie vorgeführt. Jeder Angeklagte, ob schuldig oder unschuldig, wird von einem Apparat in einem streng geregelten Ablauf zwölf Stunden lang gefoltert und dann getötet. Das Urteil wird den Delinquenten nicht verkündet, sondern gewissermaßen auf den Leib geschrieben. Kafka schildert die geplante Exekution eines aufsässigen Soldaten, der auf den Apparat geschnallt wird. Dort soll ihm als Strafe das Gebot „Ehre deinen Vorgesetzten“ in den Körper tätowiert werden. Da der Reisende vom Strafsystem nicht überzeugt scheint, lässt der Offizier den Verurteilten frei, zieht ein Blatt Papier mit der neuen Parole „Sei gerecht!“ aus einer Ledermappe und legt sich selbst in die Maschine. Der Körper des Offiziers wird aufgespießt, der außer Kontrolle geratene Apparat hebt den toten Offizier hoch und lässt ihn in eine Grube fallen.

Die Deutungen der Erzählung sind vielfältig, sie wird oft auch als Vorausschau der Gräuel gesehen, die im Krieg verübt wurden. Kafka äußerte sich zum Kriegsgeschehen jedoch widersprüchlich. Vereinzelten kritischen Bemerkungen stand sein Bemühen gegenüber, ins Militär aufgenommen zu werden, um an die Front zu kommen.

1916 las Kafka in München bei einer literarischen Vortragsreihe – Rilke war anwesend – aus dieser Erzählung. Dabei fielen angeblich mehrere Zuhörerinnen aufgrund der geschilderten Grausamkeiten in Ohnmacht. Kurt Tucholsky rezensierte die Erzählung 1920 und meinte: „So unerbittlich hart, so grausam objektiv und kristallklar ist dieser Traum von Franz Kafka: ‚In der Strafkolonie’ (...). Dieses schmale Buch, ein wundervoller Drugulin-Druck, ist eine Meisterleistung. Seit dem ‚Michael Kohlhaas’ ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit so bewusster Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt, und die doch so durchblutet ist von ihrem Autor.

Bibliografie 

Kafka, Franz: In der Strafkolonie. Unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/156/1 (19.06.2014)

Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2003, 536-563

 

Zitate:

„So unerbittlich hart, so grausam …“: Tucholsky, Kurt: Rezension In der Strafkolonie. Unter: http://www.textlog.de/tucholsky-strafkolonie.html (19.06.2014)

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.