Ich habe es nicht gewollt: „Die letzten Tage der Menschheit“
Karl Kraus’ Antikriegsdrama ist eine Realsatire ohne fortlaufende Handlung mit mehr als 200 meist kurzen Szenen. Das Stück ist in den Jahren 1915–1922 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden.
Kraus hatte es als unaufführbar deklariert und schrieb im Vorwort der Buchausgabe: „Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.“
Mehr als ein Drittel des Stücks besteht aus Montagen von Zeitungsartikeln, Militärberichten, Gerichtsurteilen, mitgehörten Gesprächen und anderem Material. „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen! Ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate“, so Kraus im Vorwort.
Noch zu Beginn des Weltkriegs war Kraus ein Verehrer des Thronfolgers gewesen, er verfasste anlässlich des Attentats in Sarajewo einen Nachruf auf Franz Ferdinand, der er in seiner Zeitschrift Die Fackel im Sommer 1914 veröffentlichte. Kraus’ Einstellung veränderte sich mit dem Grauen und der Inhumanität des Krieges. Er sympathisierte mit der Sozialdemokratie, verurteilte in der Folge die Habsburger, vor allem aber den deutschen Kaiser Wilhelm II. – aus seiner Sicht waren die Politiker gemeinsam mit den Militärs für diesen "Weltenbrand" verantwortlich.
Kraus stellte bei Kriegsbeginn zunächst das Erscheinen der Fackel ein und meldete sich erst im November 1914 mit dem Aufsatz In dieser großen Zeit wieder zu Wort:
„In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr noch dazu Zeit bleibt; (...) in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da vermögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten.“
Von da an verfasste Kraus fast ausschließlich Texte gegen den Krieg. Die Fackel wurde immer wieder beschlagnahmt, die Zensur verhinderte das regelmäßige Erscheinen. Die darin enthaltenen Polemiken gegen den Krieg und seine Urheber bildeten die Grundlage für seine 1915 begonnene Welttragödie Die letzten Tage der Menschheit, die er in Vorabdrucken in der Fackel publizierte. Kraus nahm Anleihen aus dem Soldatenlied Du Deutschland und du Österreich, das jene bis heute bekannten nationalistischen Schlachtrufe enthält:
„Gebt dem Ruß einen Schuß
dem Franzos auf die Hos
dem größten Schuft, dem Oberschuft
dem Britt’ einen Tritt.
(...) Gebt dem Japs einen Klaps
und schlagt den Serben zu Scherben.“
Sarkastisch wandelte Kraus „mit ’ner Gebrauchsanweisung“ das Soldatenlied ab:
„Verfolgst du kämpfend den Franzosen,
So gib ihm tüchtig auf die Hosen,
Begegnest du dem Söldner-Britten,
So regaliere ihn mit Tritten,
Siehst du von weitem schon den Ruß,
So vorbereite dich zum Schuß.“
Nur wenige Szenen behandeln direkt Kriegshandlungen, die wahren Untaten warf Kraus dem Verhalten und der Oberflächlichkeit jener Menschen vor, die sich im Hinterland bereicherten, vom Krieg profitierten und ihn mit patriotischen Phrasen beschönigten – nämlich die Journalisten (und die Dichter), die Waffenhändler, die hohen Offiziere, die sich weitab von den schauerlichen Schlachtfeldern ihrer Taten rühmten.
Kraus' Feindbild war Wilhelm II., den er mit originalgetreuen Zitaten parodierte. Mit seinem Gegensatzpaar des Nörglers und Optimisten als satirische Kommentatoren des Zeit- und Kriegsgeschehens sowie des Abonnenten und des Patrioten nahm er Elemente der späteren Unterhaltungskultur vorweg.
Das Drama endet in einer apokalyptischen Szene, der Auslöschung der Menschheit durch den Kosmos. Alle Menschen erweisen sich als unwürdig, auf dieser Welt zu leben, weil sie die Unmenschlichkeit und Grausamkeit des Krieges zuließen und deshalb auch zu Grunde gehen müssen. „Ich habe es nicht gewollt“, ist der letzte Satz der „Stimme Gottes“ im Drama, ein reales Zitat von Kaiser Wilhelm II..
Digitale Edition der Fackel (mit Volltextsuche) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Unter: http://corpus1.aac.ac.at/fackel (19.06.2014)
Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. Unter: http://www.welcker-online.de/Links/link_953.html (19.06.2014)
Stein, Ernst: Nachruf auf eine Epoche. Karl Kraus und der Erste Weltkrieg. Unter: http://www.zeit.de/1966/07/nachruf-auf-eine-epoche (19.06.2014)
Zitate:
„In dieser großen Zeit ...", Kraus, Karl: In dieser großen Zeit. Unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5673/28 (19.06.2014)
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Kapitel
- „Gesindel der Worte“ – Schriftsteller im Krieg
- „Ein Raum, dessen Zugang nur den dort Unbeschäftigten gestattet ist“
- Der Krieg nach dem Krieg – Aufarbeitung, Heimkehr und Rückschau
- „Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen“: „Grodek“ als Vermächtnis des Lyrikers Georg Trakl
- „Die Schuld ist immer zweifellos!“ Franz Kafkas „In der Strafkolonie"
- Ich habe es nicht gewollt: „Die letzten Tage der Menschheit“
- Antikriegsliteratur als Massenerfolg: „Im Westen nichts Neues“
- „Was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend.“ Stefan Zweig und seine „Welt von Gestern"