„Was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend.“ Stefan Zweig und seine „Welt von Gestern"

Die Welt von Gestern (1942) ist ein Testament, eine Beschreibung des alten Europa, verwoben mit den – zur Idealisierung neigenden – Erinnerungen des Autors.

Zweig meldete sich, wie viele andere Literaten auch, unmittelbar nach Kriegsbeginn freiwillig zum Militär, war jedoch untauglich für die Front und wurde ins k. u. k. Kriegsarchiv in Wien beordert. Dort versammelte sich eine ganze Gruppe von Literaten, deren Aufgabe es war, Kriegspropaganda zu verfassen – zweifellos eine privilegierte Position, welche die Autoren ihrer Profession zu verdanken hatten.

Zweigs anfängliche Kriegsbegeisterung, die er in Die Welt von Gestern nicht mehr so darstellte („ich hatte mir geschworen [...] niemals ein Wort zu schreiben, das den Krieg bejahte oder eine andere Nation herabsetzte“), zeigte sich öffentlich erstmals im August 1914 in der Neuen Freien Presse, wo er Ein Wort von Deutschland publizierte:

Mit beiden Fäusten, nach rechts und links, muß Deutschland jetzt zuschlagen, der doppelten Umklammerung seiner Gegner sich zu entwinden. Jeder Muskel seiner herrlichen Volkskraft ist angespannt bis zum Äußersten, jeder Nerv seines Willens bebt von Mut und Zuversicht.“

In offizieller Mission reiste Zweig 1915 in das zerstörte polnische Kriegsgebiet, um nach dem österreichisch-deutschen Angriff und dem Durchbruch durch die russische Frontlinie Material für das Archiv zu sammeln. Durch die dort und auch anderswo erlebte Realität des Krieges und unter dem Einfluss Romain Rollands, eines konsequenten französischen Pazifisten der ersten Stunde, beschloss Zweig „meinen persönlichen Krieg zu beginnen: den Kampf gegen den Verrat der Vernunft an die aktuelle Massenleidenschaft“.

Zweigs endgültige und konsequente Abkehr von seiner kriegspropagandistischen Tätigkeit vollzog sich allerdings erst 1917. Er ließ sich für eine Vortragsreise in die Schweiz beurlauben, wo er als Exilant bis zum Kriegsende blieb. Das Umbruchsjahr 1918 sah Zweig ambivalent, er kehrte in ein Österreich zurück, „das doch nun als ein ungewisser grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen. Was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend.

Wenige Monate nach Fertigstellung seiner Erinnerungen nahm sich Stefan Zweig gemeinsam mit seiner Frau 1942 im brasilianischen Exil das Leben. Die literaturwissenschaftliche Einordnung bleibt uneindeutig, eine Berichtigung des geschönten Bildes von sich selbst fand relativ spät statt. Erst die 1998 veröffentlichten Briefe Zweigs zeugen von der Widersprüchlichkeit der „Wortkämpfe eines Pazifisten“ und dies in geradezu demaskierender Weise.

Bibliografie 

Weinzierl, Ulrich: Außerordentlich gelehrige Halbaffen. Wortkämpfe eines Pazifisten: Stefan Zweigs Briefe 1914 bis 1919. Unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-aussero... (19.06.2014)

Zweig, Stefan: Ein Wort von Deutschland, in: Die Neue freie Presse vom 6.8.1914, 2f. Unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19140806&zoom=33 (19.06.2014)

Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6858/1 (19.06.2014)

 

Zitate:

„ich hatte mir geschworen ...", „meinen persönlichen Krieg zu beginnen ...", „das doch nun als ein ungewisser ...": Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6858/1 (19.06.2014)

„Mit beiden Fäusten, nach rechts ...": Zweig, Stefan: Ein Wort von Deutschland, in: Die Neue freie Presse vom 6.8.1914, 2f. Unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19140806&zoom=33 (19.06.2014)

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  • Person

    Stefan Zweig

    Stefan Zweig war – wie viele seiner Zeitgenossen – zu Beginn der Krieges euphorisiert, eine Haltung, die sich jedoch ab 1915 deutlich änderte. Nach seiner Tätigkeit im Kriegsarchiv nützte er 1917 eine Vortragsreise in die kriegsneutrale Schweiz, um zu exilieren.