„Gesindel der Worte“ – Schriftsteller im Krieg
Der Beginn des Ersten Weltkriegs löste vor allem in bürgerlichen und intellektuellen Kreisen eine europaweite Kriegsbegeisterung aus, wie sie heute völlig unverständlich erscheint. Propagandistische Vorreiter waren die Schriftsteller, deren Verbalattacken den Boden für die allgemeine dumpfe, nationalistische Stimmung wesentlich mitbereiteten.
Im Februar 1909 veröffentlichte der italienische Jurist und Schriftsteller Filippo T. Marinetti in der französischen Tageszeitung Le Figaro das Futuristische Manifest, in dem er in provokanter Radikalität zur Zerstörung aller Traditionen aufrief und dafür den Krieg als probates Mittel sah: „Wir wollen den Krieg verherrlichen, – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Viele Künstler – auch Schriftsteller – begeisterten sich für das futuristische Credo, und manche von ihnen starben dann „für die schönen Ideen“ auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.
Die literarische Mobilmachung begann bereits vor dem Krieg. Der deutsche Schriftsteller Georg Heym vermerkte 1910 in seinem Tagebuch: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. (...) Geschähe doch einmal etwas. (...) Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“
Die Kriegsbegeisterung erreichte jedoch erst kurz nach dem Ausbruch ihren produktiven Höhepunkt. Wortgewaltige Kombattanten auf allen Seiten richteten ihre nationalen Stereotype gegen den jeweiligen Kriegsgegner. Das populärste deutsche Gedicht der frühen Kriegszeit, Ernst Lissauers Haßgesang gegen England, wurde zum Inbegriff lyrischer Kriegsgesinnung: „Wir lieben vereint, wir hassen vereint, Wir haben alle nur einen Feind: England.“ In patriotischen Kriegsabenden im Wiener Konzerthaus diffamierte Egon Friedell unter anderem die Italiener als notorische Verräter, die Franzosen als Westbarbaren und deklamierte: „Japan ist eine Mottenplage, Menagerievölker wie die Serben und Montenegriner sind vollends indiskutabel.“
In einem lyrischen „Höhenflug“ wurden Unmengen von Gedichten an die Presse gesandt, Schätzungen aus Deutschland reichen von 50.000 Gedichten pro Tag bis zu 1,5 Millionen allein im August 1914. Allen voran stand die geistige „Elite“, am wortgewaltigsten die Schriftsteller. Auf den Listen derer, die der euphorischen Stimmung erlagen – schriftlich und teilweise auch als Freiwillige im Kriegsdienst –, findet sich das „Who is Who“ der damaligen Zunft, darunter Hermann Bahr, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Richard von Schaukal, Georg Trakl, Anton Wildgans und andere. Als Kriegsberichterstatter wirkten Alexander Roda Roda und Felix Salten, Robert Musil redigierte eine Soldatenzeitung und Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Alfred Polgar, Felix Salten, Rudolf Hans Bartsch, Franz Karl Ginzkey und Franz Theodor Csokor verdingten sich wenigstens zeitweise im Kriegsarchiv, um Propagandaschriften zu verfassen, was Rilke ironisch als „Heldenfrisieren“ bezeichnete.
Auf der Gegnerseite strapazierte der Autor des Sherlock Holmes, Arthur Conan Doyle, das Stereotyp des Kampfes für das „starke, tiefe Deutschland der Vergangenheit gegen das jetzige monströse Deutschland von Blut und Eisen“ und der Dschungelbuch-Autor Rudyard Kipling sah bereits „den Hunnen“ vor der Tür stehen.
Selten, aber doch, waren auch andere Töne zu hören, wie von Anatol France oder Romain Rolland, dessen Au-dessus de la mêlée (Über dem Getümmel) ihm den Boykott von Buchhändlern und die Verachtung seiner Schriftstellerkollegen eintrug. Manche Kriegsgegner flüchteten in die Schweiz, darunter Ernst Bloch und Walter Benjamin. Arthur Schnitzler schwieg, was angesichts der damaligen Stimmung bereits als Verdienst zu werten ist.
Heinemann, Julia et al.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914-1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch, Göttingen 2008
Sauermann, Eberhard: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg [Literaturgeschichte in Studien und Quellen 4], Wien/Köln/Weimar 2000
Traub, Rainer: Der Krieg der Geister, in: Spiegel special (2004), 1, 26-30. Unter: http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-30300018.html (19.06.2014)
Weigel, Hans/Lukan, Walter/Peyfuss, Max D.: Jeder Schuss ein Russ. Jeder Stoss ein Franzos. Literarische und graphische Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich 1914-1918, Wien 1983
Zitate:
„Gesindel der Worte“: Zweig, Stefan: Briefe 1914-1918, Frankfurt am Main 1998, 110
„Es ist immer das gleiche...“: Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. 3 Bände, Hamburg/München 1960, Bd. 3, 138f.
Anzahl der Gedichte (Schätzung): zitiert nach: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004, 190 (Fußnote 14)
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Kapitel
- „Gesindel der Worte“ – Schriftsteller im Krieg
- „Ein Raum, dessen Zugang nur den dort Unbeschäftigten gestattet ist“
- Der Krieg nach dem Krieg – Aufarbeitung, Heimkehr und Rückschau
- „Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen“: „Grodek“ als Vermächtnis des Lyrikers Georg Trakl
- „Die Schuld ist immer zweifellos!“ Franz Kafkas „In der Strafkolonie"
- Ich habe es nicht gewollt: „Die letzten Tage der Menschheit“
- Antikriegsliteratur als Massenerfolg: „Im Westen nichts Neues“
- „Was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend.“ Stefan Zweig und seine „Welt von Gestern"