Erstaunlich, aber als Folge des Krieges unabdingbar: Die christlichsoziale Stadtregierung musste den Mieterschutz gegen ihre eigene Klientel, die Hausbesitzer, durchsetzen. Der Mieterschutz war nicht die einzige soziale Errungenschaft, die vom Roten Wien weitergeführt wurde.
Der Kriegsbeginn verschärfte das notorische konfliktreiche Verhältnis zwischen Hausbesitzern und Mietparteien. Bürgermeister und Bezirksvorsteher appellierten an die Hausherren, großzügig gegenüber den in Not geratenen Mietern zu verfahren. Diese handelten jedoch nach der bewährten Logik und wollten bei Nichteinbringung der Miete kündigen. Die Behörden unterstützten nach und nach die legistische Finte, die viele Mietparteien nach dem Ratschlag der „Arbeiter-Zeitung“ anwandten: Wenn der Ehemann, der jetzt beim Militär oder beim Landsturm diente, die Wohnung gemietet hatte, war er der Wohnungsinhaber. Die Kündigung musste ihm zugestellt werden. Die Ehefrau war nicht verpflichtet, das Kuvert, das vom Gericht kam, zu übernehmen. Sollte ihr die Kündigung zugestellt werden, konnte sie zum Bezirksgericht gehen und gegen die Kündigung Einspruch erheben und auf den Ehegatten als Mieter verweisen; es zählten die Angaben auf dem Meldezettel. Das Gericht konnte für die abwesenden Mieter einen Kurator bestellen oder das Verfahren bis zur Rückkehr des Mannes unterbrechen.
Um diesen Konflikt zu mildern, wiesen die zugesagten Unterhaltsbeiträge für die Frauen und Familien der eingezogenen Soldaten die Wohnungsmiete separat aus, allerdings nur im Ausmaß bis etwa 50-60 Prozent der Miete. Hausherren erwirkten bei Nichteinbringung des Zinses vom Finanzministerium Nachlässe von der Hauszinssteuer. Wirkung zeigten auch Interventionen der stark frequentierten kommunalen Wohnungsfürsorge, die den in Not Geratenen oder Arbeitslosen half. Trotzdem war eine Vielzahl von Verfahren bei Gericht anhängig, in denen Hausbesitzer wegen ausbleibender Mieten geklagt hatten. Die Gerichtsbarkeit und auch der oberste Gerichtshof entschieden in der Regel im Sinn der Mieter. Delogierungen hörten nun fast zur Gänze auf. Die Zahl der Kündigungen sank auf rund ein Drittel des Vorkriegswertes.
Mit der Mobilisierung wurden zwar Wohnungen frei und der Leerstand erhöhte sich, allerdings verminderte der Zuzug der Flüchtlinge, die prosperierende Kriegswirtschaft und die Ausweitung der Bürokratie das Wohnungsangebot drastisch. Die galoppierende Teuerung, die auch die Mieten betraf, löste eine Debatte über den Mietzins aus. Keineswegs nur von sozialdemokratischer Seite wurden ein Einfrieren des Mietzinses und eine Festsetzung des Mietzinses durch die Behörde verlangt, um der zunehmenden Verarmung zu begegnen. Gleichzeitig wollten die Behörden gesetzliche Maßnahmen treffen, um die Vermietung von leerstehenden Wohnungen zu erzwingen. Zunehmend erschwerend bei einem Wohnungswechsel wirkte auch, dass die Preise für die Fuhrwerksdienste explodierten bzw. es unmöglich wurde, ein Fuhrwerk überhaupt zu organisieren. Das alte System des häufigen Wohnungswechsels brach zusehends zusammen.
Am 8. Dezember 1916 wurde ein eigenes Wohnungsamt der Gemeinde Wien geschaffen. Am 28. Januar 1917 wurde dann die erste einer Reihe von Mieterschutzverordnungen mit Rückwirkung vom 1. Januar 1917 erlassen. Die Mieten wurden eingefroren. Eine eigene Abteilung des Kriegswucheramts beschäftigte sich ebenfalls ab Oktober 1918 mit illegalen Praktiken im Wohnungswesen. Ende Oktober 1918 kam die Verordnung mit der unbefristeten Geltung des Mieterschutzes heraus. Was als Notmaßnahme im Krieg und für die Kriegszeit begonnen hatte, wurde in den Mieterschutzverordnungen von 1922 mit der Einführung des sogenannten Friedenszinses kodifiziert. Selbst der kommunale Wohnbau des Roten Wien wurde in Ankündigungen von Bürgermeister Weiskirchner vorweggenommen.
Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas: Wohnverhältnisse und Mieterschutz, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 462-469
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Kapitel
- Kriegsbürgermeister Richard Weiskirchner
- Das politische System: Die Obmännerkonferenz und der Gemeinderat
- Noch einmal Hauptstadt der Monarchie: Mehr Bevölkerung, mehr Aufgaben, mehr Bürokratie, weniger Ressourcen
- Die „Approvisionierung“
- Staatliche, kommunale und freiwillige Fürsorge
- Der Mieterschutz
- „Die sterbende Stadt“