Kriegsbürgermeister Richard Weiskirchner

Der nach dem Vier-Kurienwahlrecht bestellte christlichsoziale Bürgermeister Richard Weiskirchner galt als Pragmatiker. Er glaubte lange Zeit, den großen Aufbruch gestalten zu können, musste aber Niedergang und Zusammenbruch verwalten.

Richard Weiskirchner konnte als ausgewiesener Kenner der österreichischen Politik und Verwaltung gelten, als er im Jänner 1913 zum Wiener Bürgermeister gewählt wurde. Von 1897 bis 1911 war er Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses, zwischen 1898 und 1915 übte er formell die Funktion eines Abgeordneten im niederösterreichischen Landtag aus, von 1909 bis 1911 war er als österreichischer Handelsminister tätig. In den Jahren 1903 bis 1910 agierte er als Magistratsdirektor unter Bürgermeister Karl Lueger. Weiskirchner kam aus dessen kommunalpolitischer Schule, versuchte sich in der Rolle des Kriegsbürgermeisters als pragmatisch agierender Christlichsozialer mit stark deutschnationalem Einschlag zu profilieren. Das Amt des Bürgermeisters der Reichshaupt- und Residenzstadt behielt er bis zum Mai 1919.

In seinen politischen Aktionen und Initiativen gab sich Weiskirchner als der umsichtige, rührige Stadtvater, der sich um alle Bedürfnisse seiner ihm anvertrauten Bürgerschaft kümmerte, materielle Unterstützungen für die zurückgebliebenen Familien organisierte, ihnen die Unbill von Wohnungskündigungen fernhielt, mit persönlichem Einsatz die Lebensmittelversorgung sicherstellte, Grundstücke zum Anbau von Gemüse zur Verfügung stellte, der auch nicht davor zurückscheute, gegen die aufkommende Teuerung energisch einzuschreiten und der zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vermittelte. Der Magistratsdirektor pries ihn als Mann mit unerschöpflicher Tatkraft, mit rastlosem Streben, mit aufopfernder Pflichterfüllung. Zu Kriegsbeginn war er bei dieser weit gefächerten Aufgabe durchaus erfolgreich, brachte sich in tausenderlei Fällen ein.

In seiner Eigenwahrnehmung war er der rechte Mann am rechten Platz und sah für sich einen großen Platz in der Geschichte der Stadt reserviert , eine Rolle, die sich mit Fortdauer des Krieges immer verhängnisvoller gestaltete, denn nun wurde der sich populär gebende Bürgermeister zum Meister des Desasters stilisiert. Kein monarchistischer Politiker wurde wie er mit so viel Schmähbriefen, Verdächtigungen und Unfähigkeitsvorwürfen eingedeckt. Just zum Zeitpunkt, als sich die ersten Hungerkrawalle bezirksübergreifend ausbreiteten, nämlich im Mai 1916, erhielt er die Ehrenbürgerschaft. Der Volksmund machte Weiskirchner zu Bürgermeister „Maiskirchner“, der den Wienern das schlechte, kalorienarme Brot aus Kukuruzmehl (Maismehl) auftischte.

Bis zum Tod Kaiser Franz Josephs im November 1916 füllte Weiskirchner informell die vakante Stelle des Zeremonienmeisters in der habsburgischen Reichshaupt- und Residenzstadt. Der Kaiser, zum Zeitpunkt des Kriegsmanifests („An meine Völker!“) am 28. Juli 1914 fast 84 Jahre alt, war zu müde und geschwächt, um in angemessener Form Ovationen, Demonstrationen oder Jubelfeiern abzunehmen und sie zu steuern. Die Absenz des Kaisers setzte sich auf der Ebene der Regierung fort. Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh trat bei öffentlichen Feiern kaum auf. Der einzige Minister, der sich dann und wann zeigte, war Kriegsminister Alexander Freiherr von Krobatin. In die repräsentative Leerstelle rückte der Wiener Bürgermeister. Er nutzte zu Kriegsbeginn und im ersten Kriegsjahr immer wieder den großen Rathausplatz und das beflaggte Rathaus, um Siege an der Front in großer patriotischer Aufmachung und mit entsprechender Rhetorik zu feiern. Weiskirchner begleitete die von Kardinal Piffl angeführten Kriegsbittprozessionen, bei denen das Gnadenbild „Madonna mit dem geneigten Haupte“ auch über den Rathausplatz getragen und der Segen Gottes für den Sieg erbeten wurde.

Bibliografie 

Mertens, Christian: Richard Weiskirchner (1861-1926). Der unbekannte Wiener Bürgermeister, Wien 2006

Pfoser, Alfred: Wohin der Krieg führt. Eine Chronologie des Zusammenbruchs, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 580-686

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

  • Person

    Franz Joseph

    Franz Joseph war dank seiner langen Regentschaft von 68 Jahren eine prägende Gestalt der Habsburgermonarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens. Er unterzeichnete 1914 die Kriegserklärung an Serbien, die den Ersten Weltkrieg auslöste – ein Krieg, dessen Ende er nicht mehr erleben sollte.

Entwicklungen