Das politische System: Die Obmännerkonferenz und der Gemeinderat

Nach der Wiener Verfassung gab es die Institution nicht: die „Obmännerkonferenz“. Sie erwies sich für Bürgermeister Weiskirchner als kluges Steuerungsinstrument, das den „Burgfrieden“ herstellte und auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie für Kontinuität in Politik und Verwaltung sorgte.

Mit der Etablierung der erstmals am 28. Juli 1914 zusammentretenden sogenannten „Obmännerkonferenz“, in die er alle Parteien, auch die sozialdemokratische Opposition, einbezog, gelang Wiens christlichsozialem Bürgermeister Richard Weiskirchner ein politischer Coup, der – trotz aller Konflikte in den Jahren 1916 bis 1918 – die ganze Kriegszeit (und über die Republikgründung hinaus) wirkte. Er kommentierte nicht weiter, dass sich die Sozialdemokraten bei der außerordentlichen Gemeinderatssitzung zu Kriegsbeginn „mit Rücksicht auf ihre prinzipielle Gegnerschaft gegen den Krieg“ abseits hielten. Gleichzeitig stellte er sicher, dass sich diese bei „notwendigen Gemeindemaßnahmen“ während des Krieges einbrachten und bei gemeinsamen Auftritten der Stadt Wien gegenüber der niederösterreichischen Statthalterei und der Regierung nicht fehlten. Der Gemeinderat blieb bis 1916 ausgeschaltet, auch nachher wurden die grundsätzlichen Debatten in der Obmännerkonferenz geführt, fielen die Entscheidungen dort. Durch die Institution der in der Verfassung überhaupt nicht vorgesehenen Obmännerkonferenz wurde die Verantwortlichkeit des Bürgermeisters entlastet und der Opposition Mitwirkungs- und Kontrollrechte eingeräumt. Weiskirchner sah sich allerdings während des Krieges zunehmend mit der immer heftiger vorgetragenen Forderung der Sozialdemokraten nach dem Ende des Kurienwahlrechts und der Einführung des allgemeinen Männer- und Frauenwahlrechts für die Zeit nach dem Krieg konfrontiert.

Erstmals in der Geschichte der Stadt wurden damit Sozialdemokraten (Obmann war der spätere Wiener Bürgermeister Jakob Reumann, sein Stellvertreter Leopold Winarsky, nach dessen Tod Ferdinand Skaret oder dessen Vertreter Georg Emmerling) in die kommunalpolitische Entscheidungsfindung einbezogen. Der „Burgfrieden“ brachte allerdings die Sozialdemokraten in das Dilemma, einerseits einige der programmatischen Forderungen (mehr politische Verantwortung in den Bereichen Wohnen und Soziales, neue Steuergesetzgebung etc.) und spezifischen Anliegen der Arbeiterschaft durchsetzen zu können, andererseits in der Kriegsdiktatur (Aussetzung des Parlaments, Militarisierung der Betriebe, Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit etc.) Maßnahmen zur Disziplinierung der Arbeiter mittragen zu müssen. Bis 1917 wurden alle grundsätzlichen Meinungsdifferenzen trotz der sich verschlechternden Lebensbedingungen weitgehend zurückgestellt, die Sozialdemokratie unterstützte die politische Ruhigstellung der Heimatfront. Es war wohl im Zusammenhang mit den Streiks und der öffentlichen Wirkung der Gerichtsverhandlung gegen Friedrich Adler zu sehen, dass Reumann eine Vergrößerung der sozialdemokratischen Abgeordnetenzahl verlangte. Auch während der Jännerstreiks 1918, bei denen in Wien und Umgebung über 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Ausstand waren, behielt man den Kurs der Befriedung der Arbeiterschaft bei; eine Revolution, ähnlich wie in Russland, wurde als Unglück betrachtet. Gründe für die defensive Taktik gab es zahlreiche: Angst vor einer offenen Militärdiktatur und einer direkten Intervention deutscher Truppen, die Furcht vor der Ausschaltung der Partei und der Gewerkschaften sowie vor einem Bürgerkrieg in Österreich. Es entsprach der taktischen Doppelrolle der Sozialdemokraten, gleichzeitig Teil der Regierung und der radikalen Opposition zu sein. Im Gegensatz zum Deutschen Reich wurden die linken Kritiker von der Parteiführung nicht ausgeschlossen, sondern integriert.

Auch nach der Auflösung der Monarchie im November 1918 setzten die Wiener Gemeinderatsparteien auf die Wahrung der Kontinuität. Weiskirchner und Reumann paktierten eine Übergangslösung bis zu den nächsten Gemeinderatswahlen. Die Neuwahl des Gemeinderats und der Bezirksvertretung auf der Basis der gründlich revidierten Wahlordnung am 4. Mai 1919 brachte ein eindeutiges Ergebnis und gab den Sozialdemokraten (100 der 165 Mandate) die Alleinverantwortung für die Stadtpolitik.

Bibliografie 

Czeike, Felix: Liberale, christlichsoziale und sozialdemokratische Kommunalpolitik (1861-1934), Wien 1962

Czeike, Felix: Wien und seine Bürgermeister. Sieben Jahrhunderte Wiener Stadtgeschichte, Wien 1974

Seliger, Maren/Ucakar, Karl: Wien. Politische Geschichte 1740-1934. Entwicklung und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 2: 1896-1934, Wien 1985

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.

Personen, Objekte & Ereignisse

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    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

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