Staatliche, kommunale und freiwillige Fürsorge

Die Gesellschaft war in Erwartung eines kurzen Feldzugs, aber nicht auf einen Dauerkrieg eingestellt. Die soziale Agenda bekam mehr und mehr Dringlichkeit. Der Krieg wurde zur Geburtsstunde des modernen Sozialstaates.

Bereits am Abend des 25. Juli 1914, nach Ablauf des Ultimatums, kündigte der Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner an, alles zu tun, damit die Angehörigen der eingezogenen Soldaten den ihnen zustehenden Unterhaltsbeitrag bekämen. Vorgegeben war dies durch das Kriegsunterhaltsgesetz aus dem Jahr 1912. Der Unterhaltsbeitrag setzte sich zusammen aus den Unterhaltszahlungen und dem Mietzinsbeitrag. Anspruch auf Versorgung hatten in erster Linie die Ehefrau und die ehelichen Nachkommen, aber auch – je nach Einzelfall – Vorfahren, Geschwister und Schwiegereltern. Das Gesetz ließ viel Interpretationsspielraum, was Chaos produzierte. Hinzu kam die Problematik, dass in vielen Arbeiterfamilien vor 1914 Frauen gezwungen waren, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil das Einkommen des Mannes nicht reichte. Es traf auch die Frauen von Gewerbetreibenden, die nach der Einberufung des Mannes das Geschäft allein betrieben. Durch die eigenständige Erwerbstätigkeit verwirkten sie, zumindest dem Gesetz nach, die Unterstützung. Die Konflikte waren vorprogrammiert, und die Beschwerden setzten sehr schnell ein. Hinzu kam die Empörung, dass die Unterhaltsbeträge nicht der Teuerung angepasst wurden. Die mangelnde staatliche Unterstützung war jedenfalls in der zweiten Hälfte des Krieges eine Quelle der aufrührerischen, revolutionären Stimmung unter den Frauen.

Auch beim staatlichen Unterhaltsbeitrag war die Gemeinde im Rahmen des übertragenen Wirkungsbereiches gefordert. Die Ansuchen um den Unterhaltsbeitrag waren bei den Bezirksämtern abzugeben, dort wurden auch die Erhebungen über die Rechtmäßigkeit des Anspruchs durchgeführt. Entschieden wurden in den 20 Unterhaltskommissionen bei der niederösterreichischen Statthalterei, in denen die Gemeinde Wien durch je einen Beisitzer vertreten war. Auch die Geldverteilung lief in elf Bezirken über die städtischen Hauptkassenabteilungen. Was zu Kriegsbeginn als Bürgerservice gelten konnte, erwies sich bei Fortdauer des Krieges für die Stadt als Bumerang: Sie war die verantwortliche Stelle für den Unmut aller Bezieherinnen von Unterhaltsbeiträgen. Zweimal im Monat mussten sich die Frauen unter entwürdigenden Bedingungen bei den Magistratskassen anstellen, um ihre schmale Unterstützung abzuholen. Imposant die Zahlen: Waren es im Oktober 1914 etwa 60.000 Personen, so weitete sich nach und nach der Bezieherkreis um Internierte, Flüchtlinge, Invalide aus. Gegen Kriegsende waren 650.000 Personen registriert, die ihre Sozialhilfen abholten.

Neben den gesetzlichen Unterhaltsbeiträgen wurde eine eigene Kriegsfürsorge der Stadt Wien für in Not geratene Familien und Einzelpersonen, für hungernde und verlassene Kinder aufgebaut sowie ein großes Beratungs- und Unterstützungsnetz für Frauen geschaffen. Vorschüsse und Zuschüsse zum gesetzlichen Unterhaltsbeitrag wurden gewährt, Gelder für jene Härtefälle ausgeschüttet, wo kein gesetzlicher Anspruch bestand, und praktische materielle Hilfe organisiert (z.B. Arbeitsstellen für bedürftige, arbeitslose Frauen und Kriegsküchen). Die kommunale Kriegsfürsorge war organisatorisch darauf aufgebaut, arbeitsteilig zu verfahren. Private Organisationen sollten Geld und Sachspenden eintreiben, die Regie der Stadt sorgte für die gerechte Verteilung und Kontrolle und unterstützte mit eigenen Geld- oder Sachleistungen. Freiwillige oder ehrenamtlich agierende Organisationen sollten sich wiederum vor Ort in der praktischen Umsetzung der Kriegsfürsorge einbringen. Auch hier beeindrucken die Zahlen: 1918 wurden an 200.000 registrierte Familien mit 700.000 sogenannten „Mindestbemittelten“ verbilligte Einkaufsscheine ausgegeben, in den sogenannten Kriegsküchen wurden im zweiten Halbjahr 1918 mehr als 45 Millionen Portionen gekocht, um den Bedürftigen zumindest einmal am Tag Nahrung zu geben. Neben der staatlichen und der kommunalen Fürsorge gab es noch unzählige selbständig agierende private Initiativen.

Bibliografie 

Die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Wien vom 1. Jänner 1914 bis 30. Juni 1919 unter den Bürgermeistern Dr. Richard Weiskirchner und Jakob Reumann, hg. vom Wiener Magistrat, Wien 1923

Ein Jahr Kriegsfürsorge der Gemeinde Wien, hg. von der Stadt Wien, Wien 1915, 54-56

Hauptmann, Manuela: Frauenprotest und Beamtenwillkür, in: Österreich in Geschichte und Literatur 56 (2012), Heft 3, 247-271

Weigl, Andreas: Kommunale Daseinsfürsorge. Zur Genesis des ‚Fürsorgekomplexes‘, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 336-347

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Kriegsinvalidität

    Wie kein anderer Krieg zuvor ließ der Erste Weltkrieg ein Heer von verwundeten, erkrankten und für ihr Leben gezeichneten Männern zurück. Mechanische Behelfsmittel wie diese Schreibhilfe sollten die körperliche Funktionalität der Kriegsbeschädigten wiederherstellen und deren Reintegration in den Arbeitsmarkt gewährleisten. Wie groß die Zahl derer aber tatsächlich war, die verwundet oder erkrankt von der Front zurückkehrten, war selbst Jahre nach dem Krieg nicht bekannt. 1922 dürften in Österreich etwa 143.000 Kriegsbeschädigte gelebt haben.

  • Objekt

    Flucht und Deportation

    Millionen von Menschen flohen während des Krieges vor den Kampfhandlungen und den marodierenden Soldaten. Besonders dramatisch erwies sich die Situation in den ethnisch heterogen zusammengesetzten Gebieten der Ostfront. Neben den Invasoren gingen hier auch die Soldaten des Ansässigkeitsstaates gegen die Bevölkerungsminderheiten vor. Darüber hinaus wurden hunderttausende Zivilisten aus den Front- und Etappenbereichen ins Hinterland zwangsdeportiert: Zum einen, weil da man sie als unzuverlässige „innere Feinde“ betrachtete, zu anderen um sie als Zwangsarbeiter auszubeuten.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?