Binnen kürzester Zeit mussten zu Beginn des Ersten Weltkriegs Monturen für ganze Armeen bereitgestellt werden. Einheimische Textilfasern waren aber Mangelware. Zur Versorgung vor allem der Zivilbevölkerung wurden daher in großem Umfang Papiergewebe aus Holzzellulose auf der Basis heimischer Baumbestände erzeugt.
Der Kriegsausbruch brachte nicht nur einen erhöhten Bedarf an Metallen mit sich. Nun mussten auch Hunderttausende Soldaten mit Monturen ausgestattet werden. Die Eigenproduktion pflanzlicher und tierischer Fasern war aber in der Habsburgermonarchie stetig zurückgegangen: So hatten sich die Anbauflächen für Flachs seit 1875 um rund 40 Prozent vermindert, zwei Drittel des zu verarbeitenden Flachses mussten eingeführt werden. Die Zahl der Schafe war seit den 1850er Jahren um ein Drittel zurückgegangen, nunmehr gelangte Schafwolle unter anderem aus Argentinien und Australien ins Land. Die wichtige Baumwolle war ohnehin ein Importgut und stammte etwa aus den USA und aus Indien.
Die erzeugenden Betriebe behalfen sich zunächst mit Mischgeweben und verschiedenen Arten von „Kunstwolle“. Dabei handelte es sich überwiegend um Material aus alten, zerrissenen und neuerlich versponnenen Kleidungsstücken. Der Anbau bislang wenig genutzter Textilfasern, etwa von Nesseln, wurde eifrig propagiert. Immerhin hatte die Verarbeitung von Brennnesseln zu Geweben einige Tradition. Sie erlangte aber keine praktische Bedeutung. Als bester Ersatz boten sich Papiergewebe an. Deren Rohmaterial, die Holzzellulose, stand in einheimischen Wäldern reichlich zur Verfügung und fand auch für andere Zwecke Verwendung. Die meisten Firmen erzeugten aber Sulfitzellulose, nur wenige lieferten die festere und zähere Natronzellulose, die sich besser zur Herstellung von Spinnpapier eignete. Dazu zählte die gräflich Henckel von Donnersmarck’sche Papierfabrik AG in Frantschach (Kärnten). Aufgrund der fehlenden Kapazitäten musste daher Spinnpapier zu hohen Preisen vorwiegend aus Schweden und Norwegen bezogen werden. Wegen des zunehmenden Textilfasermangels begannen zunächst die Erzeuger von Leinen, später jene von Baumwoll- und von Wollprodukten mit der Erzeugung von Papiergarn. Die notwendigen Papierschneidemaschinen stammten von der deutschen Maschinenfabrik Jagenberg in Düsseldorf.
Somit stellte bereits die Herstellung von Papier- und Papiermischgewebe eine Herausforderung dar. Aber auch der Absatz unter Kriegsbedingungen gestaltete sich alles andere als einfach. Zwar waren Erzeugnisse aus Papiergarn keine Novität: In Ostasien seit Jahrhunderten bekannt, hatten sie auch in Europa und den USA eine wenn auch geringe Verbreitung gefunden. In der Bevölkerung waren Papier- und Papiermischgewebe jedoch sehr unbeliebt. Unter anderem waren sie schwer zu waschen und zu pflegen; und für den Fall schlechter Witterung befürchteten viele, dass sich die Kleidungsstücke noch an Ort und Stelle auflösen würden. Dennoch fanden sie in den beiden letzten Kriegsjahren ihren Weg auch in die großen Wiener Warenhäuser, etwa zu Herzmansky in der Mariahilferstraße. Um ihren Gebrauch zu forcieren, wurden 1918 bei der Ersatzmittel-Ausstellung im Prater Papierkleider zur Schau gestellt. Daran beteiligte sich auch die renommierte „Wiener Werkstätte“ mit künstlerischen Entwürfen. Dennoch verschwanden nach Kriegsende die meisten dieser Waren rasch wieder von der Bildfläche.
Bericht über die Industrie, den Handel und die Verkehrsverhältnisse in Niederösterreich während der Jahre 1914–1918. Dem Staatsamte für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten erstattet von der n.-ö. Handels- und Gewerbekammer in Wien, Wien 1920
Schmidt-Bachem, Heinz: Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland, Berlin/Boston 2011
Schwarz, Richard: Die Spinnpapierindustrie, in: Katalog der Ersatzmittel-Ausstellung Wien 1918, hg. von der Ausstellungskommission, Wien 1918, XXV–XXXIII
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Kapitel
- Zichorien, Torf & Textilit: Ersatzmittel vor dem Krieg
- Eherne Zeiten: Metalle
- Geschütze statt Geläute: Metallsammlungen
- Prekäre Kleidung: Textilien und Papiergewebe
- Gut zu Fuß? Gerbemittel und Leder
- Dehnbar und unersetzlich: Gummiwaren
- Von fern und nah: Harze und Harzprodukte
- Die Ersatzmittel-Ausstellung im Prater 1918