Gut zu Fuß? Gerbemittel und Leder

Als schon bald nach Kriegsbeginn die Lieferungen stockten, wurde vielen die Bedeutung mancher unscheinbarer Rohstoffe aus fernen Ländern klar. Dazu zählten argentinisches tanninreiches Quebrachoholz für Gerbezwecke und das Wachs der brasilianischen Carnaubapalme, das für die Lederpflege Verwendung fand.

Das alte Handwerk der Gerberei erlebte im Verhältnis zu anderen Branchen eine zögernde Industrialisierung. Als Gerbmittel dienten durch Jahrhunderte einheimische Materialien, darunter Fichten- und Eichenrinde sowie Eichenknoppern. Damit dauerte die Gerbung dicker Tierhäute in den Lohgruben bis zu drei Jahre. Erst um die Jahrhundertwende setzte sich, ausgehend von Westeuropa, allmählich die sogenannte Schnellgerberei durch. Nun gelangten zunehmend konzentrierte natürliche Substanzen mit exotischen Namen nach Österreich: Mangrovenrinde aus Madagaskar, Mimosarinde aus Südafrika, Divi-Divi aus Mexiko und vor allem das stark tanninhaltige Holz des argentinischen Quebrachobaums. Dieses wurde teilweise in Österreich zu Extrakt verarbeitet; zu den größten Unternehmen dieser Art zählte die Firma H. & M. Oesinger in Roztok (Roztoky) nördlich von Prag. Andere Quebracho verarbeitende Fabriken lagen verkehrsgünstig an der österreichischen Adriaküste. Mit dem Ausfall der überseeischen Lieferungen kamen wieder die einheimischen Gerbstoffe in Gebrauch. So experimentierten Fachleute an der Versuchsanstalt für Lederindustrie in Wien mit Eichen- und Kastanienholz, verschiedenen Rinden, Fichtenzapfen und Baumfrüchten. Darüber hinaus untersuchten sie kritisch Ersatz-Gerbhilfsstoffe, die mit billigen Substanzen und Abfallprodukten wie Melasse oder Holzzellstofflaugen versetzt waren.

Der zähe und haltbare Werkstoff Leder spielte auch in Kriegszeiten eine wichtige Rolle, unter anderem für Schuhwerk und Stiefel für den Heeresbedarf, für Zaumzeug und Gurten aller Art. Zunächst stand genügend Leder zur Verfügung: Rinder wurden in großen Mengen geschlachtet, und unter den fürchterlichen Bedingungen des Krieges kamen viel Pferde zu Tode. Doch wurden 1915 Sohlen- und Oberleder für Schuhe sowie andere Ledersorten für militärische Anforderungen requiriert. In der Folge wurde für die Zivilbevölkerung vor allem Material für Schuhsohlen zur Mangelware; diese mussten zunehmend aus Lederabfällen, Holz oder Filz hergestellt werden. Auch Ledertreibriemen für Transmissionen zum Betrieb von Maschinen wurden knapp und zum Teil durch Riemen aus Papier- und Drahtgeweben ersetzt.

Angesichts der sich verschlechternden Qualität der Erzeugnisse gewann die Leder- und Schuhpflege an Bedeutung. Ein beliebtes Mittel dafür stellte das Wachs der brasilianischen Karnaubapalme dar. Noch im Jahr 1913 hatte Österreich-Ungarn immerhin 2.639 Zentner rohes und zubereitetes Karnaubawachs importiert. Zu den großen Verbrauchern zählte der Schuhcremenhersteller Stefan Fernolendt in Wien. Als Ersatz für die nunmehr fehlende Substanz kam behelfsweise Rohmontanwachs in Gebrauch, das in Böhmen aus einheimischer Braunkohle erzeugt wurde. Auch in dieser Branche brachte eine Reihe von Produzenten minderwertige Waren auf den Markt, die sie als „künstliches Schuhfett“, „Glyzerinersatz“ oder „gestreckten Fischtran“ anpriesen. Wie in vielen anderen Fällen hielten die Ersatzmittel auch hier nicht, was sie versprachen.

Bibliografie 

Der Außenhandel der öst.-ung. Monarchie im Jahre 1913, in: Österreichische Chemiker-Zeitung, Neue Folge 17 (1914), 75–79

Kohnstein, Bernhard: Über die Folgeerscheinungen des Krieges auf die Lederindustrie und die Vorkehrungen des technischen Versuchswesens, in: Mitteilungen des k. k. Technischen Versuchsamtes 4/4 (1915), 30–39

Weitensfelder, Hubert: „Kriegsware“. Ersatzstoffe in Produktion und Alltag, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 172–179

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?