Erzherzog Karl stand nach den Schüssen von Sarajewo rascher als erwartet in der Position des Thronfolgers. Dennoch war er in die Entscheidungsfindung im Juli 1914, als das Für und Wider eines Krieges diskutiert wurde, überhaupt nicht eingebunden. Dies ist erstaunlich, denn mit dem Ableben des greisen Franz Joseph musste eher früher als später gerechnet werden – und Karl würde mit der Krone auch den Krieg erben.
Bis 1914 durchlief Karl eine für die männlichen Mitglieder der Dynastie typische militärische Laufbahn und verbrachte etliche Jahre in verschiedenen Garnisonen in Böhmen und Galizien. Dort schlug ihm die Haltung der Berufsoffiziere zu ihren wohlgeborenen „Kollegen“ aus dem Erzhaus entgegen: Die zahlreichen habsburgischen Erzherzoge im Offiziersrang wurden zwar mit allen gebührenden Ehren behandelt; intern wurden die Erzherzoge jedoch als vernachlässigbare Statisten gewertet, die ihre glänzenden Karrieren nur ihrer hohen Geburt und nicht individuellen Leistungen verdankten.
Bei Kriegsausbruch wurde der nunmehrige Thronfolger dem Heeresoberkommando zugeteilt, mit dem ausdrücklichen Befehl, ihn aus Sicherheitsgründen nicht in direkte Kampfhandlungen zu involvieren. Karl erfüllte die Aufgaben eines Verbindungsoffiziers zwischen dem Heeresoberkommando und dem Kaiser in Wien. Auf seinen zahlreichen Inspektionsreisen trat er als Vertreter der Dynastie auf und sollte die Nähe zur Armee demonstrieren.
In diese Zeit reichen auch die Wurzeln des schwierigen Verhältnisses zu Generalstabschef Conrad von Hötzendorf. Die beiden kannten sich flüchtig aus der Vorkriegszeit, da Karl am Beginn seiner Karriere als Major in einem Regiment unter Conrads Führung gedient hatte. Karl war in militärischen Belangen Conrad unterstellt, der sehr reserviert gegenüber Karl agierte, um keinen Anschein einer Bevorzugung aufkommen zu lassen. Es war dies eine eigenartige Konstellation, denn es war klar, dass der junge Erzherzog, momentan noch ein untergebener Offizier, in naher Zukunft Kaiser sein würde. Karl akzeptierte anfangs die Autorität Conrads, der den jungen Habsburger aus den engsten Gremien der Entscheidungsfindung heraushielt.
Als Beobachter ohne großen Wirkungsradius sollte der Thronfolger den Krieg aus einem möglichst globalen Blickwinkel kennenlernen und wurde dabei auch Zeuge der Misserfolge der österreichischen Armee am russischen Kriegsschauplatz, als Ende August 1914 die russischen Truppen die Frontlinien durchbrachen und eine erfolgreiche Offensive nach Galizien starteten.
Erst im Juli 1915 wurde Karl nach Wien beordert und sollte nun an der Seite Franz Josephs, dessen Zustand sich rasant verschlechterte, sozusagen in letzter Sekunde in die Interna der Regierungsgeschäfte eingeweiht werden. Die tatsächliche Entscheidungsgewalt lag jedoch bereits in Händen der Armeeleitung und der Spitzen der Verwaltung. Der alte Kaiser war zu einer reinen Symbolfigur reduziert worden, der abgeschirmt von der Öffentlichkeit kaum noch in die Geschehnisse eingriff. Karl, von einem dynastischen Sendungsbewusstsein durchdrungen, sah seine Aufgabe aber nicht in der Erfüllung von leeren Ehrenfunktionen, sondern als wahrer „Führer seiner Völker“. Spannungen bauten sich auf zwischen Karl, der zwar idealistische Pläne verfolgte, aber über keine politische „Hausmacht“ verfügte, und der alten Führungsriege um Franz Joseph.
Im August 1916 ließ sich Karl schließlich wieder an die Front versetzen, nachdem Rumänien der Habsburgermonarchie den Krieg erklärt hatte und nach Siebenbürgen einmarschiert war. Dort verblieb er aber nur kurz, denn im November 1916 wurde der Thronfolger dringend nach Wien gerufen, da sich der Gesundheitszustand des alten Kaisers dramatisch verschlechtert hatte.
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Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013
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Kapitel
- Franz Joseph: Der alternde Kaiser
- Das Problem der Thronfolge
- Franz Joseph und Franz Ferdinand – ein gespanntes Verhältnis
- Franz Ferdinand und sein politisches Programm
- Kaiser Wilhelm II.: Der geliebte Feind
- „Erzherzog Bumbsti“
- Karl als Thronfolger
- Der neue Kaiser
- Karl I. und der Zerfall der Monarchie
- Die letzten Tage der Monarchie
- Kaiser Karl auf dem Weg ins Exil