Der Thronfolger sah die Probleme, an denen die Habsburgermonarchie krankte, durchaus klar. Die Lösung glaubte er in einer Betonung des Zentralismus und in einem autoritären Regierungsstil zu finden. Demokratiepolitisch hätte seine Regentschaft – hätte er je den Thron bestiegen – einen deutlichen Rückschritt bedeutet.
Franz Ferdinand war ein glühender Verfechter des monarchischen Prinzips, wonach dem Herrscher eine überragende Stellung im politischen System der Monarchie gebühre. Als zukünftiger Kaiser sah er sich als Autokraten, dessen Wort das entscheidende Gewicht zufallen sollte.
In dieses Konzept passte auch sein dezidiertes Eintreten für einen gestärkten Zentralstaat, dem im Sinne des „großösterreichischen“ Gedankens die Forderungen der einzelnen Nationalitäten untergeordnet sein sollten. Als wenig taktvoller Mensch machte Franz Ferdinand keinen Hehl aus seiner tiefen Ablehnung gegenüber dem österreichisch-ungarischen Dualismus, in dem er die Wurzel allen Übels zu erkennen glaubte: „Dieser Ausgleich ist das größte Unglück: dem armen Kaiser nach dem 66er Unglück (= Schlacht bei Königgrätz) abgerungen, richtet er uns wirtschaftlich zu Grunde und nebstbei ist dieser Dualismus überhaupt der Ruin der Monarchie. Es ist ja himmelschreiend, was diese Magyaren treiben!“ Aufgrund seiner offenen Animosität gegenüber der ungarischen Sache sah man in Budapest im Thronfolger einen Feind.
Franz Ferdinand geriet in dieser Frage in eine deutliche Opposition zu Franz Joseph. Der Thronfolger propagierte zunächst Pläne für einen Trialismus in Form eines Ausgleichs mit den Südslawen, deren Siedlungsgebiete unter kroatischer Führung zu einem dritten Teilstaat der Monarchie werden sollten. Das Ziel war die südslawischen Vereinigungstendenzen zu kanalisieren und die Rolle Serbiens als Einiger der slawischen Balkanvölker zu neutralisieren. Ein weiterer innenpolitischer Zusatzeffekt wäre gewesen, dass dadurch der magyarische Separatismus gedämpft würde. Auch hätte die Dynastie in einem dreiteiligen Reich leichter die Rolle der dominierenden Zentralmacht einnehmen können.
Später rückte der Thronfolger von diesem Plan ab und favorisierte mehr und mehr eine klar zentralstaatliche Neuorganisation der Monarchie. In dem 1911 veröffentlichten Programm zum Thronwechsel wurde eine Art Zusammenschau der politischen Konzepte aus dem Umkreis der Berater Franz Ferdinands geboten: Die entscheidende Phase wäre die Zeit zwischen der Machtübernahme nach dem Tod des alten Kaisers und Franz Ferdinands Krönung zum ungarischen König gewesen. Die Reformen mit dem Ziel einer Aushöhlung des Dualismus sollten unmittelbar bei Regierungsantritt, aber noch vor der Krönung durchgeführt werden. Denn durch den Krönungseid band sich der König an die Verfassung, was den Status quo in Ungarn einzementiert hätte.
Eine Reformmaßnahme wäre die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Ungarn gewesen, um die Vormachtstellung der magyarischen Eliten zu brechen. Im Umfeld Franz Ferdinands glaubte man, damit das ungarische Parlament genauso durch die Nationalitätenstreitigkeiten lähmen zu können, wie dies bereits im österreichischen Reichsrat der Fall war. Bei der staatsstreichartigen Umgestaltung der Verfassung sollte die ungarische Autonomie innerhalb des Gesamtstaates massiv geschwächt werden. Im Notfall wäre etwaiger Widerstand oder gar ein möglicher Bürgerkrieg durch einen militärischen Einsatz mit Gewalt niederzuschlagen. Ziel sei die Stärkung der Zentralmacht, und die Doppelmonarchie sollte durch einen Einheitsstaat mit deutlicher Betonung des deutschen Elements ersetzt werden – vergleichbar mit dem Kaisertum Österreich im Vormärz. Aus diesem Programm, das selbst einen autoritären Staatsstreich in Kauf nahm, spricht die eigenartige Mischung aus reaktionärem Konservatismus und Reformeifer, die typisch für Franz Ferdinand war.
Außenpolitisch war Franz Ferdinand ein Gegner der Kriegspolitik, wie sie vom österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf verfochten wurde. Denn der Thronfolger war sich der Schwäche der Monarchie bewusst. Als Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht (seit 1913) – und somit im Kriegsfall Oberster Befehlshaber in Vertretung des greisen Franz Joseph – hatte er tiefe Einsichten in die militärischen Potenziale der Doppelmonarchie gewonnen. Franz Ferdinand war Realist genug um zu begreifen, dass das Habsburgerreich einen größeren kriegerischen Konflikt nicht überstehen würde.
Vor allem der drohende Konflikt mit Russland war seiner Meinung nach unbedingt zu vermeiden. Franz Ferdinand verfolgte eine Politik der Annäherung an das Zarenreich, in dem er einen Partner im Kampf gegen den nationalen Extremismus in Südosteuropa zu erkennen glaubte. Ziel sollte ein Zweckbündnis der beiden autoritären Regime sein, denn „ein Krieg zwischen Österreich und Rußland würde entweder mit dem Sturze der Romanows oder mit dem Sturze der Habsburger – vielleicht von beiden – enden“.
Aichelburg, Wladimir: Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und Artstetten, Wien 2000
Bled, Jean-Paul: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger, Wien u. a. 2013
Holler, Gerd: Franz Ferdinand von Österreich-Este, Wien [u.a.] 1982
Kann, Robert A.: Erzherzog Franz Ferdinand. Studien, Wien 1976
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena/Schippler, Bernd: Schwarzbuch der Habsburger. Die unrühmliche Geschichte eines Herrscherhauses (2. Auflage, ungekürzte Taschenbuchausgabe), Innsbruck [u.a.] 2010
Zitate:
„Dieser Ausgleich ist das größte Unglück...“ Franz Ferdinand, zitiert nach: Jean-Paul Bled: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger, Wien u. a. 2013, 125
„ein Krieg zwischen Österreich und Rußland ...“, Franz Ferdinand, zitiert nach: Jean-Paul Bled: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger, Wien u. a. 2013, 240
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Kapitel
- Franz Joseph: Der alternde Kaiser
- Das Problem der Thronfolge
- Franz Joseph und Franz Ferdinand – ein gespanntes Verhältnis
- Franz Ferdinand und sein politisches Programm
- Kaiser Wilhelm II.: Der geliebte Feind
- „Erzherzog Bumbsti“
- Karl als Thronfolger
- Der neue Kaiser
- Karl I. und der Zerfall der Monarchie
- Die letzten Tage der Monarchie
- Kaiser Karl auf dem Weg ins Exil