Die Beziehung zwischen Franz Joseph und seinem Neffen Franz Ferdinand, der nach dem Tod Kronprinz Rudolfs zum Thronfolger wurde, war alles andere als von Harmonie und Vertrauen geprägt.
Zwei grundverschiedene Persönlichkeiten trafen hier aufeinander: Der Kaiser und sein Nachfolger vertraten unterschiedliche Auffassungen vom Kaiseramt und der Zukunft der Monarchie.
Die persönliche Abneigung der beiden zueinander war in der charakterlichen Verschiedenheit zwischen Onkel und Neffen begründet. Während Franz Joseph sehr kontrolliert und zurückhaltend war, besaß Franz Ferdinand ein wenig gewinnendes Wesen und agierte eher impulsiv – die beiden brachten sich gegenseitig zur Weißglut. Oft endeten Gespräche in Schreiduellen, und Franz Joseph beendete die Diskussion mit einem kategorischen „Solange ich lebe, regiere ich!“ Franz Ferdinand sah in Franz Joseph verkürzt gesagt einen Greis, der sich krampfhaft an den Thron klammerte, während der Kaiser in seinem Nachfolger einen Heißsporn zu erkennen glaubte, der vor lauter Ehrgeiz seinen Tod nicht erwarten könne.
Franz Joseph war der Meinung, dass sich sein Nachfolger bis zum letzten Moment geduldig und gehorsam im Hintergrund halten sollte. Der Kaiser bezog daher den Thronfolger kaum in politische Entscheidungsfindungsprozesse ein – ein Fehler, den er zuvor bereits bei seinem Sohn Rudolf gemacht hatte, und auch später bei seinem Großneffen Karl machen sollte. Franz Joseph konnte sich offensichtlich nicht in die Rolle eines Thronfolgers hineinversetzen, da er selbst bereits sehr früh mit 18 Jahren an die Macht gekommen war.
Verstärkt wurde die persönliche Antipathie zwischen dem alten Kaiser und seinem Nachfolger durch konträre politische Ansichten: Franz Joseph reagierte sehr gereizt auf Vorschläge vonseiten Franz Ferdinands bezüglich durchaus vernünftiger Modernisierungsmaßnamen bei Hofe und in der Armee, als deren Generalinspektor der Erzherzog fungierte. Franz Ferdinand entwickelte ehrgeizige Pläne für die Zukunft der Monarchie: er galt als Gegner des ungarischen Ausgleichs, den er zugunsten einer verstärkten Einbeziehung der slawischen Nationalitäten aufweichen wollte. Die politischen Vorstellungen des Thronfolgers waren von klerikalen und antidemokratischen Tendenzen geprägt. Der Erzherzog galt als prononcierter Gegner der Moderne in Kunst und Kultur.
Franz Ferdinand begann um sich einen Kreis von Vertrauten zu bilden, die als eine Art Schattenregierung gesehen wurden. Da angesichts des hohen Alters des Kaisers jederzeit mit dessen Ableben zu rechnen war, wollte er auf die Machtübernahme vorbereitet sein. Das Zentrum dieser politischen Gruppierung wurde der offizielle Wohnsitz des Thronfolgers, das Obere Belvedere in Wien, während sich die traditionellen höfischen Eliten um den „Alten Herrn in Schönbrunn“ scharten. Schönbrunn und das Belvedere wurden in der Folge zu politischen Kürzeln für den Generationenkonflikt im Haus Habsburg.
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Beller, Steven: Franz Joseph. Eine Biographie, Wien 1997
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Holler, Gerd: Franz Ferdinand von Österreich-Este, Wien [u.a.] 1982
Kann, Robert A.: Erzherzog Franz Ferdinand. Studien, Wien 1976
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Kapitel
- Franz Joseph: Der alternde Kaiser
- Das Problem der Thronfolge
- Franz Joseph und Franz Ferdinand – ein gespanntes Verhältnis
- Franz Ferdinand und sein politisches Programm
- Kaiser Wilhelm II.: Der geliebte Feind
- „Erzherzog Bumbsti“
- Karl als Thronfolger
- Der neue Kaiser
- Karl I. und der Zerfall der Monarchie
- Die letzten Tage der Monarchie
- Kaiser Karl auf dem Weg ins Exil