„Gebessert“ entlassen und für den Krieg „aufgepäppelt“

Für manche „Kriegsmediziner“ bot der Weltkrieg die einmalige Chance, ihre keineswegs immer besonders philanthropischen Theorien und Therapien im großen Maßstab zu testen, nicht selten zur Qual ihrer Patienten. Eine besondere Rolle spielten dabei angesichts des auch in den Spitälern immer größeren Mangels an Lebensmitteln auch Konzepte der nun aufblühenden Ernährungswissenschaften.

Ziel der medizinischen Versorgung war es, möglichst viele verwundete Soldaten nach einigen Wochen und Monaten „gebessert“ zu entlassen. Die Spitäler und Lazarette entwickelten sich daher rasch zu „Gesundheitsfabriken“ nach dem Konzept des Physiologen Arnold Durig. Medizinische und administrative Abläufe folgten einem exakten Organisationsplan. Arbeitsabläufe waren genau festgelegt, Zeitmanagement gefragt. Operationen sollten in der kürzest möglichen Zeit abgewickelt werden. Tatsächlich war es bei Verwundeten mit einfachen Durchschüssen oder an Infektionskrankheiten wie Cholera oder Ruhr Erkrankten oft nach relativ kurzer medizinischer Betreuung möglich, diese einigermaßen gesundet zu entlassen und damit die enormen Menschenverluste der ersten Kriegsmonate bedingt zu kompensieren.

Zeitgenössische Bilder suggerieren, dass die Genesenen wieder für den Krieg „aufgepäppelt“ wurden. Dies gestaltete sich mit Fortdauer des Krieges jedoch immer schwieriger. Daher kam ein vom Leiter der Universitäts-Kinderklinik Clemens Pirquet entwickeltes System einer „rationellen Kostordnung“ zur Anwendung, welches ursprünglich zum Ziel hatte, mit schwindenden Mengen an Lebensmitteln eine ausreichende Versorgung der „Kriegskinder“ zu erreichen. Im Zentrum des Pirquet‘schen Ernährungssystems stand die umstrittene These, dass sich Fett durch entsprechenden Zucker- und Kohlehydratkonsum mehr oder minder vollständig als Nahrungsmittel ersetzen ließe. Das System kam ab 1917 nicht nur in Kinder-, sondern auch in einigen Militärspitälern zur Anwendung.

Jene Soldaten, die überlebten, wurden meist nach einigen Wochen Behandlung in heimatliche Spitäler verlegt, wie etwa der Krankenakt von Heinrich Schäffer, 30 Jahre, Ersatzreservist, 52. Infanterieregiment, 9. Kompanie, Landmann aus Hidas, Komitat Boronjo, Ungarn, belegt. Nachdem er am 14. Dezember 1914 mit Durchschuss des rechten Oberschenkels und Erfrierungen am rechten Fuß in der I. chirurgischen Universitätsklinik eingeliefert worden war, wurde er am 23. April 1915 „gebessert“ in das heimatliche Rote Kreuzspital in Dombóvár verlegt. Ein anderer Patient, Josef Skocila, geboren 1895 in Bistritz am Hostein, Infanterist, Infanterieregiment 3, 3. Ersatzkompanie, wurde am 6. Juni 1915 im k. k. Allgemeinen Krankenhaus, I. chirurgische Abteilung, mit der Diagnose „Rückenschuss“ aufgenommen. Er war bei Jaroslav von einem Schrapnell verwundet worden, wurde von der Sanität am Felde liegend aufgefunden und am Hilfsplatz verbunden. Skocila kam dann nach Jaroslav und Neusandez ins Spital, von dort nach Wien. Der Röntgenbefund ergab einen Einschuss in der Gegend des rechten Hüftenbeins, den Ausschuss in der „Satagegend“, kein Projektil im Bereich des Beckengürtels und keine gröberen Frakturen. Skocila wurde am 19. Juni 1915 „gebessert“ entlassen.

Bibliografie 

Eiselsberg, Anton: Wie wurde die klinische Chirurgie durch die Erfahrungen des Weltkrieges beeinflusst und welche praktischen Nutzanwendungen sollen daraus gezogen werden?, in: Pirquet, Clemens von (Hrsg.): Die Volksgesundheit im Krieg, Band 2, Wien/New Haven 1926, 166–178

Freund, Leopold: Die Aufgaben der Medizin im Weltkriege, Wien 1917

Hofer, Hans-Georg: Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod: Wien (und Österreich-Ungarn) im Ersten Weltkrieg, in: Medizin in Gegenwart und Geschichte 31 (2013), 33–66

Hofer, Hans-Georg: Mobilisierte Medizin. Der Erste Weltkrieg und die Wiener Ärzteschaft, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 302–309

Weigl, Andreas: Demographic Transitions Accelerated. Abortion, Body politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post-War Austria, in: Bischof, Günter/Plasser, Fritz/Berger, Peter (Hrsg.): From Empire to Republic: Post-World War I Austria (Contemporary Austrian Studies 19), New Orleans 2010, 142–170

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.