1910 wurde die letzte statistische Gesamtaufnahme der Habsburgermonarchie durchgeführt. Die Unmenge an damals gesammelten Daten gibt ein anschauliches Bild des Zustands der Doppelmonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs und zeigt die große Vielfalt, aber auch das enorme Gefälle und die erschreckenden Ungleichheiten zwischen den Regionen auf.
Beginnend mit 1869/70 wurden in der Doppelmonarchie etwa alle zehn Jahre Volkszählungen durchgeführt. Der dualistische Aufbau des Staates bedingte auch hier eine Zweigleisigkeit. Das Problem war, dass die für die österreichische Reichshälfte zuständige K.K. Statistische Zentralkommission zum Teil andere Erhebungskriterien anwandte als das Kgl. Ungarische Statistische Zentralamt.
Der gewichtigste Einwand in dieser Hinsicht war, dass in Cisleithanien nach der Umgangssprache, in Ungarn dagegen nach der Muttersprache gefragt wurde. Der bis heute umstrittene Standpunkt der Wiener Behörde war, dass in der Volkszählung eine bloße offizielle Erhebung der Umgangssprachen vorgenommen wurde. Man verwehrte sich gegen die Verwendung der Daten zur Darstellung nationaler Verhältnisse, was aber in der Realität geschah, da sonst keinerlei Alternativdaten in diesem Umfang vorhanden waren.
Weiters wurde kritisiert, dass nur aus einer Liste behördlich definierter landesüblicher Sprachen gewählt werden konnten. So galt z. B. Ungarisch in der österreichischen Reichshälfte als nicht landesüblich, und daher standen keine Angaben über eine etwaige Ungarisch sprechende Bevölkerungsgruppe in Cisleithanien zur Verfügung. Weiters waren kleinere ethnische Gruppen oft benachteiligt, denn es wurden Ladiner und Furlaner unter „Italiener“, Slowaken unter „Tschechoslawen“ subsumiert.
Auch das Phänomen der Mehrsprachigkeit, die in Österreich-Ungarn weit verbreitet war, wurde ignoriert, weshalb sich mehrsprachige Personen für eine Sprache entscheiden mussten. So stand ein tschechischstämmiger Wiener vor dem Dilemma, welche Sprache er angeben sollte: seine tschechische Muttersprache oder Deutsch, das er im Kontakt mit seiner Umgebung verwendete? Es herrschte auch ein starker Druck der Assimilierung zu dominanten Sprachen wie Deutsch, Ungarisch oder Italienisch, denn oft ermöglichte erst das Bekenntnis zu diesen Sprachen den Aufstieg, was zu einer Marginalisierung der zahlenmäßig oder soziopolitisch schwächeren Sprachgruppen führte. Auch die Klassengesellschaft mit ihrer starren sozialen Hierarchie übte Druck aus, und so wurden Menschen in Abhängigkeit oft von Hausherren oder Dienstgebern ihrer offiziellen ethnischen Identität „beraubt“.
Als Beispiel für die Fraglichkeit der damaligen Ergebnisse kann die Situation der Wiener Tschechen und Slowaken gelten. 1910 bekannten sich bei der Volkszählung knapp 100.000 Personen in Wien zur tschechoslawischen Umgangssprache. Der tatsächliche Anteil der Tschechen an der Wiener Wohnbevölkerung war aber wahrscheinlich höher, denn nach 1918 bekannten sich deutlich mehr Wiener zur tschechoslowakischen Sprachnation. Allein in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ließen sich ca. 150.000 in Wien wohnhafte Menschen – also signifikant mehr Personen, als sich wenige Jahre zuvor als Tschechen und Slowaken deklariert hatten – als ethnische Tschechoslowaken repatriieren und nahmen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an.
Auch war der amtliche Blick auf die nationalen Verhältnisse der Monarchie abhängig von der Kooperationsbereitschaft der lokalen Behörden, welche die primären Datenlieferanten darstellten. Oft kollidierte die bürokratisch-zentralistische Zugangsweise mit der Sichtweise der lokalen Entscheidungsträger. Besonders in Gebieten mit gemischtsprachiger und daher nationalistisch aufgeheizter Bevölkerung gab es Einwände gegen die Grenzziehung der Zählungssprengel. Und nicht zuletzt war die Unbestechlichkeit der Daten durch Manipulationen getrübt. Zum Teil nahmen die Statistiker Korrekturen vor und ließen Zählungen wiederholen oder neu auswerten, wenn man auf Ungereimtheiten gestoßen war.
Brix, Emil: Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 72), Wien 1982
Rumpler, Helmut: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie aus der Perspektive der Bevölkerungs-, Siedlungs-, Erwerbs-, Bildungs- und Verkehrsstatistik 1910, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 9–26
Wolf, Michaela: Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzer und Dolmetscher in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918, Wien u. a. 2012