Der Fotograf als Dokumentarist: Der Blick der Amateure

Wenn auch an der Front ein reger Handel mit Negativen und Abzügen betrieben wurde, so richtete sich die Mehrzahl der AmateurfotografInnen doch an keinen spezifischen Abnehmer, sondern lichtete ab, was ihnen von dokumentarischem Wert erschien. Festgehalten wurde, was ihre Kriegserfahrungen widerspiegelte. So konterkarierten ihre Aufnahmen jenes offizielle Bild des Krieges, das in den Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurde.

Im Kontrast zu jenen Fotografien, die mit propagandistischer Absicht erstellt wurden und den Krieg glorifizierten, war der Blick der Amateure von anderen Motiven gelenkt. Sie fotografierten in erster Linie Erinnerungsbilder an den Krieg und hielten fest, was ‚ihren Krieg‘ ausmachte. Mit Detailversessenheit wurden Szenen des Alltags, der Gewalt und Zerstörung dokumentiert. Dahinter verbarg sich das Vertrauen in die dokumentarische Kraft der Kamera und die Hoffnung, individuelle Erfahrungen sichtbar machen zu können. Zugleich schärfte die ständige Bedrohung und psychische Belastung das Bewusstsein für die Vergänglichkeit des Lebens. So war jede Aufnahme auch ein Zeichen des Überlebens, das in Form einer Ansichtspostkarte nach Hause geschickt wurde.

Darüber hinaus wollte man den Daheimgebliebenen ein Bild des Lebens an der Front vermitteln. Knappe Anmerkungen („Hier seht ihr…“), auf die Rückseite der Bilder geschrieben, zeugen von der Hoffnung, die abgebildeten Objekte könnten für sich selbst sprechen und helfen, den Abstand zu den fernen Angehörigen zu überbrücken. Da viele Fronterlebnisse kaum mit vergleichbaren Erfahrungen im Zivilleben in Verbindung gebracht werden konnten, sollte die vermeintliche Authentizität der Fotografie das Unsagbare darstellen und zur Sprache bringen. Umgekehrt sollten Aufnahmen von zu Hause das Heranwachsen der Kinder, das Wohlbefinden der Angehörigen und ähnliches dokumentieren und kommunizieren. Die Fotografie sollte zwischen den beiden Welten – Front und Heimat – vermitteln und eine kommunikative Brücke zwischen beiden Erlebnisräumen errichten.

Die Bilderwelt der soldatischen „Knipser“ kannte vor allem zwei Motivgruppen. Zum einen wurde das Neue und Unbekannte festgehalten, zugleich aber mit dem Anstrich der ‚Normalität‘ versehen. Die Kamera zeigte, wie Weihnachten gefeiert, wie gekocht und geputzt, Stellungen errichtet und Feldlager aufgebaut wurden. Kriegslandschaften, Ausrüstungsgegenstände und Waffen wurden abgelichtet und für die Zukunft konserviert. Durch die Abbildung des soldatischen Alltags im gewohnten Wechsel von Arbeit und Freizeit konnte eine Analogie zum Alltag zu Hause hergestellt werden.

Zum anderen fiel der fotografische Blick der Amateure auf die Gewalt und Bedrohung, der sie permanent ausgesetzt waren. Die Soldaten dokumentierten so Übergriffe auf die Zivilbevölkerung abseits der etablierten Sehgewohnheiten, zeigten Tod und Brutalität, Massenerschießungen und Hinrichtungen jenseits von Tabu und Zensur. Der Blick durch die Kamera schuf Distanz, ließ den fotografierenden Soldaten auf der anderen Seite stehen und als Sieger auftreten. Diese inoffiziellen Bilder tauchten kaum in der illustrierten Presse auf und fanden ihren Weg nur selten in die Archive.

Bibliografie 

Holzer, Anton (Hrsg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003Li

Hüppauf, Bernd: Fotografie im Ersten Weltkrieg, in: Spilker, Rolf/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998, Osnabrück 1998, 108-123

Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich 1880 bis 1980, München 1995

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?