Der Erste Weltkrieg als „Erinnerungsort“

Als „Erinnerungsort“ wurde der Erste Weltkrieg in Österreich und auch in Deutschland vom Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust überlagert. Im Zyklus der Jubel- und Gedenkjahre waren die Achter-Jahre (1918, 1938) stets präsenter als die „kleineren“ Vierer-Jahre (1914, 1934). Das Jahr 1918 markierte im historischen Gedächtnis Österreichs weniger das Ende des Ersten Weltkriegs als den Untergang der Monarchie und löste damit auch die endlosen Diskussionen um die Identität des einstigen Weltreiches aus, das durch die Pariser Vororteverträge zum Kleinstaat geworden war. 

Der Beginn der Ersten Republik war überschattet vom Narrativ des Staates, „den keiner wollte“, von den Konflikten zwischen den politischen Lagern, von Not und Elend und von einer „Zwischenkriegszeit“, die direkt in den Zweiten Weltkrieg führte. Vom Ersten Weltkrieg blieben die Schüsse in Sarajevo mehr im Gedächtnis als alles andere, was danach folgte. Die Kriegsschuldfrage spielte im historiographischen Diskurs Österreichs eine untergeordnete Rolle. Dies war anders als in Deutschland, wo Fritz Fischer in seinem Buch Griff nach der Weltmacht (1961) Deutschland eine eindeutige Kriegsschuld zuwies und damit eine heftige Debatte unter Historikern auslöste („Fischer-Kontroverse“).

Mit dem Dogma des Neuanfangs 1945 bzw. 1955 und der Zweiten Republik als positivem Gegenstück zur Ersten Republik geriet der Erste Weltkrieg aus dem Fokus geschichtswissenschaftlicher und medialer Betrachtungen. Diese „Unterbelichtung“ hat sich im Zuge der hundertsten Wiederkehr des Kriegsausbruchs deutlich verschoben. Im Jahr 2014 gab es wohl kein Medium, das nicht einen Schwerpunkt zum Ersten Weltkrieg im Programm hatte. In Deutschland flammte, ausgelöst durch den Bestseller des australischen Historikers Christopher Clark Die Schlafwandler, wieder die Kriegsschuldfrage auf. Clark schrieb in seinem Buch Deutschland zwar eine (Mit-)Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zu, jedoch nicht mehr als allen anderen beteiligten Mächten. Damit stieß er in Deutschland großteils auf wohlwollende Zustimmung. In Österreich blieb die Rezeption vergleichsweise zurückhaltend.

Wie die Historikerin Heidemarie Uhl anmerkt, bedeutet Gedächtnis, „einem Ereignis aus der Gegenwartsperspektive Sinn und Bedeutung“ zu verleihen. Uhl ortet zwei Aspekte, in denen der Gedächtnisort Erster Weltkrieg für Österreich auch in der Gegenwart von Relevanz sein könnte: Dies sei das Gedenken an die Gefallenen – das mit dem Bild vom einfachen Soldaten verbunden ist, der im Ersten Weltkrieg durch den Kampf und seinen Tod zum Helden stilisiert wurde. Da dieses Heldengedenken auch für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs übernommen wurde, gerät „der einfache Soldat“ im Zusammenhang mit der Rolle der Wehrmachtssoldaten und deren Verbrechen immer wieder in heftige Kritik. Den zweiten Aspekt sieht Uhl im Gründungsdatum der Ersten Republik, dessen Reflexion „die Möglichkeit für neue Perspektiven jenseits der politisch aufgeladenen Interpretationsmuster [eröffnet]. Voraussetzung dafür ist die Rekonstruktion der Debatten und Kontroversen um 1914–1918, gerade auch in der Geschichtswissenschaft.“ Aus transnationaler Sicht böten übergreifende Gedenkinitiativen, vor allem im (zentral-)europäischen Raum mit den Nachfolgestaaten der ehemaligen Monarchie, die Chance, den Blick auf andere Sichtweisen des Ersten Weltkriegs zu eröffnen.

Bibliografie 

Historische Pflichterfüllung  – Ein Interview mit Gerd Krumeich. Unter: http://grandeguerre.hypotheses.org/1433 (10.06.2014)

Korte, Barbara (Hrsg.): Der erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008

Krumeich, Gerd: „Konjunkturen der Weltkriegserinnerung“, in: Rother, Rainer: Der Weltkrieg 1914–1918, Berlin 2004, 68–73

Riesenfellner, Stefan (Hrsg.): Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien/Köln/Weimar 1998

Uhl, Heidemarie: Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis Österreichs und (Zentral)Europas – Gedächtnistraditionen in (trans)nationaler Perspektive, in: Christa Hämmerle et al.: Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, Wien 2013, 30-32. Unter: http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/bmeia/media/3-Kulturpolitische_Sektion_-_pdf/Themen_Dateien/Grundlagenpapier_1914_-_2014.pdf (20.06.2014)

Ullrich, Volker: Zündschnur und Pulverfass, in: Die Zeit vom 17.9.2013. Unter: http://www.zeit.de/2013/38/sachbuch-christopher-clark-die-schlafwandler-europa-erster-weltkrieg (06.06.2014)

 

Zitate:

„die Möglichkeit  für neue Perspektiven ...“: Uhl, Heidemarie: Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis Österreichs und (Zentral)Europas – Gedächtnistraditionen in (trans)nationaler Perspektive, in: Christa Hämmerle et al.: Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, Wien 2013, 30-32, hier: 31. Unter: http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/bmeia/media/3-Kulturpolitis... (20.06.2014)

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.