Der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe“ – Narrative I

Es existiert wohl kaum ein Schlagwort, das öfter im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg genannt wird, als das Wort „Urkatastrophe“. Der Begriff geht auf den US-amerikanischen Diplomaten und Historiker George F. Kennan zurück, der 1979 von „the great seminal catastrophe“ gesprochen hatte. Die deutschsprachige Übersetzung als „Urkatastrophe“ ist inzwischen zum häufig gebrauchten Narrativ geworden, das zumeist dessen Herkunft, Bedeutung und vor allem Wirkung außer Acht lässt.

Mit der Wortschöpfung verfolgte Kennan die Strategie, den Ersten Weltkrieg als Kontinuitätsbruch darzustellen und den Zweiten Weltkrieg als direkte Folge davon zu sehen. Die Bezeichnung des Ersten Weltkriegs als „Urkatastrophe“ markiert demnach den Beginn einer Serie von darauffolgenden Katastrophen, die den Anfang und die Ursprünglichkeit des Ereignisses betont.

Der Begriff der „Katastrophe“ als Deutungsmuster für den Ersten Weltkrieg hatte sich, so betonen es die Germanisten Jahraus und Kirchmeier, schon kurz nach dessen Ende in der Weimarer Republik etabliert. Erstmals wurde für ein von Menschen verursachtes Ereignis ein Begriff verwendet, der bis dahin für die Beschreibung von Naturgewalten und deren Folgen vorbehalten war. Im damaligen Diskurs war jedoch vielfach nicht klar, worauf sich die Katastrophe des Ersten Weltkriegs bezog: War es der Krieg selbst oder war es die Niederlage? In der deutschen Literatur der frühen Zwischenkriegszeit seien, so Jahraus und Kirchmeier, drei zentrale Bedeutungsfelder der „Katastrophe“ auszumachen: Natur/Technik, Religion und Décadence. Das Zerstörungspotential von Naturgewalten wird auf den Krieg übertragen und auch mit entsprechenden Metaphern umschrieben. Thomas Mann reflektiert mit seiner Figur Lodovico Settembrini in Der Zauberberg (1924) die Vorkriegszeit: „Ihm war, als könne ‚das alles‘ kein gutes Ende nehmen, als werde eine Katastrophe das Ende sein, eine Empörung der geduldigen Natur, ein Donnerwetter und aufräumender Sturmwind, der den Bann der Welt brechen, das Leben über den ‚toten Punkt‘ hinwegreißen und der ‚Sauregurkenzeit‘ einen schrecklichen Jüngsten Tag bereiten werde.“ Auch die beiden anderen Kategorien lassen sich hier ausmachen: die Religion in Form des „Jüngsten Tages“ und der „tote Punkt“ sowie die „Sauregurkenzeit“ für die Décadence.

Die Technik war ab dem 19. Jahrhundert immer wieder Auslöser von Katastrophen, etwa bei Eisenbahnunfällen. Diese waren jedoch überschaubare Einzelereignisse. Der Einsatz technischer Neuerungen führte im Ersten Weltkrieg allerdings zu einer bisher unbekannten Dimension solcher „Katastrophen“ – keine Versicherung wollte und konnte „Kriegsfälle“ ab diesem Zeitpunkt durch Schadensleistungen abdecken.

Jahraus und Kirchmeier konstatieren für die Zwischenkriegszeit eine Tendenz zur Entindividualisierung der Schuldfrage: „Es bleibt nur mehr ein komplexes Netzwerk von Zusammenhängen, bei dem nicht mehr plausibilisiert werden kann, was Ursache und was Folge ist, wer schuldig und wer nur betroffen ist. Und es ist zumindest zu vermuten, dass eine solche Exkulpation nicht die unwichtigste soziale Funktion der Katastrophenmetapher ist.

Nach 1945 bezog sich der Katastrophenbegriff vorwiegend auf den Zweiten Weltkrieg. Der Begriff der „Urkatastrophe“ und dessen Übernahme als geschichtswissenschaftlicher Topos für den Ersten Weltkrieg sei erst deshalb möglich geworden, weil die Verantwortung Deutschlands für beide Kriege nicht mehr zu bestreiten war. Wenn Eric Hobsbawm von der Zeit zwischen 1914 und 1945 als „Age of Catastrophe“ spricht, um die Kontinuität zwischen den Kriegen festzuschreiben, wird dem seitens der Geschichtswissenschaft aber auch entgegengehalten, dass dies eine zu verknappte Sicht auf die Weimarer Republik sei, in deren Anfangszeit durchaus auch optimistische Zukunftsperspektiven verbreitet waren. Dies gilt auch für Österreich und die Erste Republik.

Bibliografie 

Jahraus, Oliver/Kirchmeier, Christian: Der Erste Weltkrieg als „Katastrophe“. Herkunft, Bedeutungen und Funktionen einer problematischen Metapher. Unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18875 (20.06.2014)

Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890. Princeton 1979

 

Zitate:

„Ihm war, als könne ‚das alles‘...“: Mann, Thomas: Der Zauberberg, Frankfurt am Main 2002, 960, zitiert nach: Jahraus, Oliver/Kirchmeier, Christian: Der Erste Weltkrieg als „Katastrophe“. Herkunft, Bedeutungen und Funktionen einer problematischen Metapher, unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18875 (20.06.2014)

„Es bleibt nur mehr ...“: Jahraus, Oliver/Kirchmeier, Christian: Der Erste Weltkrieg als „Katastrophe“. Herkunft, Bedeutungen und Funktionen einer problematischen Metapher, unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18875 (20.06.2014)

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