Das Vielvölkerreich – Zwischen Gesamtstaatsidee und Nationalismus
Die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Nationalitäten innerhalb der Habsburgermonarchie prägten die letzten Jahrzehnte der Regentschaft Kaiser Franz Josephs maßgeblich. Die konkurrierenden nationalen Forderungen ließen sich jedoch immer weniger mit dem Konzept eines übernationalen Staates „Österreich-Ungarn“ vereinbaren.
Zur Veranschaulichung der ethnischen Vielfalt der Habsburgermonarchie seien hier die Ergebnisse der Volkszählung von 1910 angeführt. Die vermeintliche statistische Genauigkeit ist teilweise irreführend, denn es ist zu beachten, dass in der österreichischen Reichshälfte nach der „Umgangssprache“ gefragt wurde, während in Ungarn die „Muttersprache“ anzugeben war. Bei aller daraus resultierenden Unschärfe sah die Verteilung nach Sprachgruppen folgendermaßen aus:
Die größte Sprachgruppe waren die Deutschsprachigen mit 12 Millionen, was 23,4 % der Gesamtbevölkerung entsprach. 10 Millionen gaben Ungarisch als Muttersprache an (= 19,6 %). Die dritte Stelle nahm Tschechisch mit 6,4 Millionen SprecherInnen (= 12,5 %) ein. Zur polnischen Sprachgruppe bekannten sich 5 Millionen Menschen (= 9,7 %). Weitere 4,4 Millionen oder 8,5 % der Gesamtbevölkerung gaben Sprachen an, die amtlicherseits als „Serbokroatisch“erfasst wurden und die heute als Bosnisch, Kroatisch und Serbisch unterschieden werden. Ukrainisch bzw. in der zeitgenössischen altösterreichischen Diktion „Ruthenisch“ als Umgangssprache wurde bei 4 Millionen Personen (= 7,8 %) erhoben, Rumänisch bei 3,2 Millionen (= 6,3 %). Die drei kleinsten Sprachgruppen waren Slowakisch mit 2 Millionen (= 3,8 %), Slowenisch mit 1,3 Millionen (= 2,4 %) und schließlich Italienisch mit 0,8 Millionen (= 1,5 %) Sprechern. Weitere 2,3 Millionen Menschen (= 4,5 %) bekannten sich zu keiner der von der Behörde definierten „landesüblichen Sprachen“ der Monarchie.
Während die beiden zahlenmäßig stärksten „Staatsvölker“ – neben den Deutsch-Österreichern nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 auch die Magyaren – ihre politische Vormachtstellung sowie ihre Privilegien zu schützen versuchten, lag das Hauptaugenmerk der übrigen Volksgruppen vor allem darauf, kulturelle und politische Gleichstellung zu erlangen.
Auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen kamen verschiedene Formen von nationaler Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zum Tragen, die eine Reihe von politischen Krisen auslösten. Schauplätze im Kampf um nationale Besitzstände in den unterschiedlichen Gebieten der Monarchie wurden das Schulwesen und die Frage der Amtssprache – die Intensität und der Radikalismus, mit denen diese Konflikte geführt wurden, ließen den Glauben an die Lebensfähigkeit des Vielvölkerstaates zusehends schwinden.
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010
Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches (2 Bände), Wien 1980
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Kapitel
- Österreich-Ungarn – eine europäische Großmacht?
- Menschenmassen – Die Entwicklung der Bevölkerung
- Das Vielvölkerreich – Zwischen Gesamtstaatsidee und Nationalismus
- Die Vielfalt der Konfessionen
- Verschiedene Geschwindigkeiten: Die wirtschaftliche Entwicklung
- Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Alphabetisierung als Gradmesser der Entwicklung