Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Alphabetisierung als Gradmesser der Entwicklung
In Hinblick auf den hohen Anteil an Analphabeten in der Gesamtbevölkerung war die Habsburgermonarchie im Vergleich zu westeuropäischen Staaten rückständig. Bezeichnend für die Heterogenität war der regional extrem unterschiedliche Alphabetisierungsgrad.
Während im Deutschen Reich im Jahr 1899 nur mehr ca. 1 % der Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig war und der Analphabetismus 1912 offiziell als beseitigt galt, bildete dieser in Österreich-Ungarn weiterhin ein massives Problem.
In der Monarchie herrschten äußerst ungleiche Bildungschancen. Es bestanden große Unterschiede zwischen zentralen Gebieten und der strukturschwachen Peripherie, wo nicht nur die Möglichkeiten für den Erwerb höherer Bildung beschränkt waren, sondern oftmals schon der Zugang zur Elementarbildung kaum gegeben war. Erst um 1900 hatte man die schulische Infrastruktur im Grundschulwesen auch an der Peripherie des Reiches so weit ausgebaut, dass die Forderung nach einem verpflichtenden Schulunterricht, wie sie seit der Einführung der achtjährigen Pflichtschule 1869 gesetzlich vorgeschrieben war, auch in der Realität umsetzbar werden konnte. Um 1900 besuchten erst 75 % der Schulpflichtigen tatsächlich die Volksschule, wobei dieser Anteil bis 1910 auf 88 % stieg.
Ausschlaggebend war aber nicht nur der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie, sondern auch die Zugehörigkeit zur jeweiligen ethnischen Gruppe. Die Gründe, warum das Angebot in manchen Bevölkerungsgruppen nicht angenommen wurde, lagen vor allem in der ungleichen gesellschaftlichen Entwicklung der einzelnen Sprachgruppen. Bei einigen ethnischen Gruppen führte der Grundsatz des Rechtes auf muttersprachlichen Unterricht zu einer Potenzierung der Bildungsmöglichkeiten. So herrschte im zweisprachigen Böhmen aufgrund der Parallelität des deutschen und tschechischen Bildungsangebotes, das als positiver Nebeneffekt des kulturellen Aufrüstens im Sprachenstreit entstanden war, der höchste Alphabetisierungsgrad: Hier waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges ca. 95 % der Angehörigen beider Sprachgruppen des Lesens und Schreibens mächtig.
Am anderen Ende der Skala standen die östlichen und südöstlichen Reichsteile, wo regional manchmal weniger als 30 % der Bevölkerung alphabetisiert waren. Am stärksten war der Anteil der illiteraten Bevölkerung bei politisch und ökonomisch unterprivilegierten Sprachgruppen wie den Serbokroaten, Rumänen oder Ruthenen, die nur über ein schwach ausgebildetes Netz an Bildungsinstitutionen in der eigenen Sprache verfügten.
Vor allem in Ungarn zeigten sich gravierende Ungleichheiten, denn hier besuchten um 1870 trotz der gesetzlichen Schulpflicht weniger als 50 % der Kinder tatsächlich eine Schule, und 68 % der Bevölkerung waren Analphabeten. Trotz eines steten Aufholprozesses blieb die ungarische Reichshälfte im Bildungsbereich hinter der österreichischen Reichshälfte zurück. Dies ist nicht zuletzt auf die staatliche Schulpolitik in Ungarn zurückzuführen, die den allgemeinen Magyarisierungstendenzen folgte und den nicht-ungarischen Sprachgruppen den Zugang zu muttersprachlichem Unterricht erschwerte.
Ein weiterer Nachweis der sozialen Rückständigkeit in den benachteiligten Ethnien war die Tatsache, dass in den gering alphabetisierten Gruppen der Anteil der Frauen an den Analphabeten deutlich höher war, während in Gebieten mit hoher Alphabetisierungsdichte die Rate bei Männern und Frauen fast gleich war.
Nicht nur in ethnischer Hinsicht waren die Differenzen extrem. Auch die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Gruppe beeinflusste den Grad der Alphabetisierung, wie die Daten der Volkszählung von 1910 zeigen. In Ungarn war der Anteil der Lese- und Schreibkundigen unter der jüdischen Bevölkerung mit 75 % am höchsten. Ebenfalls hoch war die Alphabetisierung unter den Protestanten (73 % bei den Evangelischen AB bzw. 69 % bei den Evangelischen HB sowie 63 % bei den Unitariern). Bereits deutlich geringer war der Prozentsatz bei der größten konfessionellen Gruppe, den Römisch-Katholischen, mit 61 %. Das Schlusslicht bildeten die östlichen Kirchen: nur 35 % der orthodoxen und 28 % der griechisch-katholischen Christen waren alphabetisiert.
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Seger, Martin: Räumliche Disparitäten sozioökonomischer Strukturen in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 27–44
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Kapitel
- Österreich-Ungarn – eine europäische Großmacht?
- Menschenmassen – Die Entwicklung der Bevölkerung
- Das Vielvölkerreich – Zwischen Gesamtstaatsidee und Nationalismus
- Die Vielfalt der Konfessionen
- Verschiedene Geschwindigkeiten: Die wirtschaftliche Entwicklung
- Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Alphabetisierung als Gradmesser der Entwicklung