Verschiedene Geschwindigkeiten: Die wirtschaftliche Entwicklung

Die Habsburgermonarchie vereinte Territorien in sich, die geprägt waren von unterschiedlichen Entwicklungslinien in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft. Diese Vielfalt, die sich auf kulturellem Gebiet als außerordentlich befruchtend erwies, erschwerte jedoch die Modernisierung des Gesamtstaates.

Innerhalb der Doppelmonarchie herrschten extreme Unterschiede im Entwicklungsstand, auch wenn dank einer forcierten infrastrukturellen Erschließung – v. a. im Eisenbahnbau – um 1900 eine gewisse Homogenisierung erreicht werden konnte, die nun auch die Peripherie des Reiches erfasste.

Dennoch verblieben große regionale Unterschiede: In der Habsburgermonarchie fanden sich hoch entwickelte industrielle Ballungszentren neben rückständigen Agrarregionen. Auch waren die Differenzen zwischen den beiden Reichshälften signifikant. In Cisleithanien stellten in erster Linie die böhmischen Länder – hier v. a. Nord- und Mittelböhmen sowie das schwerindustrielle Zentrum um Mährisch Ostrau (tschech. Moravská Ostrava) – die Regionen mit dem höchsten industriellen Anteil. Bedeutend waren hier die Maschinenbau- sowie die Nahrungsmittelindustrie, während die  Textilindustrie, die noch um 1880 ein Drittel des Sektors ausgemacht hatte, zunehmend an Bedeutung verlor.

In den österreichischen Alpen- und Donauländern bildeten Wien und sein industriell geprägtes Umland sowie die traditionellen Metallindustrie- und Bergbauzentren des Alpenraumes die leistungsstärksten Regionen. Kaum von der Industrialisierung berührt blieben die Karpatenländer (Galizien und Bukowina) und der adriatische Raum (Dalmatien und die peripheren Gebiete Krains und des Küstenlandes), welche die Gesamtzahlen negativ beeinflussten. Dennoch war um 1900 in der österreichischen Reichshälfte die Industrie bereits der leistungsstärkste Sektor.

In Ungarn hingegen bildete die Landwirtschaft weiterhin den bedeutendsten Zweig. Ein Problem war jedoch die ungleiche Verteilung des Grundeigentums: Der Großgrundbesitz dominierte die Produktion, während für die Masse der kleinstbäuerlichen Anwesen rückständige Wirtschaftsweisen typisch waren. Die ländliche Bevölkerung lebte unter erbärmlichen Umständen: In Ungarn zählte man um 1900 vier Millionen besitzlose Landarbeiter (ca. ein Fünftel der Bevölkerung), die zum Großteil unter dem Existenzminimum vegetierten. Aber auch unter der Bauernschaft verfügte nur ca. ein Drittel der Anwesen über ausreichend Grundbesitz, um über den Eigenbedarf hinaus für den Markt produzieren zu können.

Dennoch war auch in Ungarn eine beginnende Verschiebung vom Agrarsektor zur Industrie zu bemerken. Vor allem die zentralungarische Region um Budapest verfügte über extrem hohe Wachstumsraten. Die verspätete Industrialisierung war auch eine Folge der Kapitalschwäche. Die Hälfte bis ein Drittel des investierten Kapitels stammte aus Cisleithanien oder aus dem Ausland (in erster Linie Deutschland).

Ein bemerkenswertes Phänomen des Habsburgerreiches war die „Arbeitsteilung“ zwischen den einzelnen Großregionen des Gesamtstaates. Generell lässt sich sagen, dass in den österreichischen Alpen- und Donauländern der tertiäre Sektor (Verwaltung, Bildung, Handel und Dienstleistungen) am stärksten ausgeprägt war, während in den böhmischen Ländern der industrielle Sektor dominant war. Ungarn und die Karpatenländer erfüllten wiederum die Rolle der agrarischen Kornkammer. Dies führte zu einer gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeit, welche die Habsburgermonarchie zu einem geschlossenen Wirtschaftsgebiet mit einer geringen Verflechtung mit dem restlichen Europa werden ließ.   

Bibliografie 

Brusatti, Alois/Wandruszka, Adam (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band I: Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973

Rumpler, Helmut: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie aus der Perspektive der Bevölkerungs-, Siedlungs-, Erwerbs-, Bildungs- und Verkehrsstatistik 1910, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 9–26

Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart [Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 1995

Seger, Martin: Räumliche Disparitäten sozioökonomischer Strukturen in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 27–44

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

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    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.