Menschenmassen – Die Entwicklung der Bevölkerung
Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung eines Staates vor allem auch anhand der Größe der Bevölkerung gemessen. Laut den Daten der letzten Volkszählung 1910 betrug die Einwohnerzahl der Doppelmonarchie 51,4 Millionen Menschen.
Die Bevölkerung verteilte sich jedoch sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Reichsteile. Die westliche Reichshälfte, auch Cisleithanien genannt, zählte 1910 28,6 Millionen, was 55,6 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Die ungarische Reichshälfte oder Transleithanien verfügte mit 20,9 Millionen oder 40,6 % der Einwohnerschaft über eine deutlich geringere Bevölkerung. Bosnien und Herzegowina, die von den beiden Reichshälften als Kondominium gemeinsam verwaltet wurden, umfassten 1,9 Millionen (= 3,8 %).
Die Bevölkerung hatte im Reich der Habsburger in den vorangegangenen Jahrzehnten rasant zugenommen. In den Jahren 1860 bis 1900 stieg sie in Cisleithanien um sieben Millionen auf 26,2 Millionen, in Ungarn um fünf Millionen auf 19,3 Millionen. Auch im Jahrzehnt zwischen 1900 und 1910 war die Bevölkerung in beiden Reichshälften um knapp 12 % gewachsen. Das starke Bevölkerungswachstum war eine Folge der Industrialisierung und Produktionssteigerung in der Landwirtschaft sowie des generellen Fortschritts.
Besonders rasant war der Anstieg der städtischen Bevölkerung dank einer starken Migration in die Metropolen Wien und Budapest, aber auch in die boomenden regionalen Zentren wie Prag, Lemberg oder Triest.
Wien war 1910 mit einer Bevölkerung von knapp über 2 Millionen eine der größten Städte des Kontinents. Andere europäische Großstädte der Zeit waren Paris mit 2,8 Millionen, Berlin mit 2,1 Millionen, Sankt Petersburg mit 1,9 Millionen und Moskau mit 1,6 Millionen. Die mit Abstand größte Stadt Europas war London mit 7 Millionen Einwohnern.
Weitere bedeutende Städte des Habsburgerreiches waren die ungarische Metropole Budapest, die nach einer Periode extremen Wachstums 880.000 Einwohner zählte. Die beiden nächstgrößten Städte der Monarchie waren Triest mit 230.000 Einwohnern und Prag mit 224.000 Einwohnern. Im Falle von Prag bezieht sich diese Zahl aber nur auf die eigentliche Stadt. Denn wenn der gesamte Ballungsraum – rund um die historische Stadt hatte sich ein Kranz von administrativ eigenständigen Gemeinden und Vororten gebildet – berücksichtigt wird, kommt man auf eine Einwohnerzahl von über 500.000. Den fünften Platz unter den Städten Österreich-Ungarns nahm Lemberg mit einer Einwohnerschaft von 206.000 Menschen ein.
Die Überbevölkerung in den strukturschwachen Gebieten der Peripherie ließ für viele Menschen aber auch die Auswanderung zu einer Option werden: Zwischen 1891 und 1920 stammte ein Fünftel aller Einwanderer in die USA aus der Habsburgermonarchie.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Rumpler, Helmut: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie aus der Perspektive der Bevölkerungs-, Siedlungs-, Erwerbs-, Bildungs- und Verkehrsstatistik 1910, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 9–26
Seger, Martin: Räumliche Disparitäten sozioökonomischer Strukturen in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010, 27–44
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Kapitel
- Österreich-Ungarn – eine europäische Großmacht?
- Menschenmassen – Die Entwicklung der Bevölkerung
- Das Vielvölkerreich – Zwischen Gesamtstaatsidee und Nationalismus
- Die Vielfalt der Konfessionen
- Verschiedene Geschwindigkeiten: Die wirtschaftliche Entwicklung
- Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Alphabetisierung als Gradmesser der Entwicklung