„Kriegsmüde - das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat“
Mit der Fortdauer des Krieges machten sich sowohl unter der Zivilbevölkerung als auch unter den Soldaten zunehmend Desillusionierung und Kriegsmüdigkeit breit. Die Hoffnungen der Soldaten, die den Krieg als großes Abenteuer, als großen Lehrmeister und Chance zur Erprobung ihrer Männlichkeit gesehen hatten, wurden bitter enttäuscht.
In einem Brief des Kriegsfreiwilligen Walter Schmidt wird die Frustration über die Realität des Krieges deutlich: „Was der Krieg uns als Menschen lehren will, das haben wir nicht gelernt und werden’s auch nicht. Wir hofften auf einen Ausgleich der sozialen Gegensätze auf Grund eines besseren Sichkennenlernens, wir hofften auf Veredelung des Volksgeschmacks in den Genüssen des Lebens, auf eine Vereinfachung der Lebenshaltung, und alles ist nur in sehr geringem Maße zustande gekommen und befindet sich vielfach schon jetzt wieder in der Auflösung. Das Füreinanderleben ist gar unvollkommen; nach wie vor herrscht der Egoismus im Felde wie daheim.“
Die Hoffnung, dass der Krieg die Klassengegensätze nivellieren und zur nationalen Einheit beitragen werde, wurde nicht erfüllt. Die Ungleichbehandlung der Soldaten durch militärische Vorgesetzte verhinderte oftmals die Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls. Hinzu kam, dass Wohlhabende von der katastrophalen Versorgungskrise weit weniger betroffen waren, da sie am Schwarzmarkt beinahe alle Nahrungsmittel erwerben konnten. Die Desillusionierung all jener Soldaten, die freiwillig in den Krieg gezogen waren, kommt in einer von Rudyard Kipling verfassten Grabsteininschrift besonders deutlich zum Ausdruck: „If any question why we died, Tell them, because our fathers lied.“ [„Wenn’s Fragen gibt, warum wir starben, erzählt ihnen, weil unsere Väter gelogen haben.“]
Aufgrund des Scheiterns der k. u. k. Armee im Herbst 1914 in Serbien und Galizien wich die Euphorie vieler Soldaten schon nach wenigen Wochen einer pessimistischen und resignativen Grundhaltung. Mit Fortdauer des Krieges, dem Ausbleiben von bedeutenden Siegen und der wirtschaftlichen sowie militärischen Erschöpfung mehrten sich die Zersetzungserscheinungen innerhalb der Armee.
Die im letzten Kriegsjahr stattfindenden massenhaften Desertionen von Soldaten waren Ausdruck der Desillusionierung und Kriegsunwilligkeit der Truppen. Die Ersatzkörper der k. u. k. Armee mussten im August 1918 einen Fehlstand von ca. 50.000 Mann verzeichnen, die dem Einrückungsbefehl keine Folge leisteten. Erschöpfung, Verwundung, Kälte und Hunger überschatteten das Pflichtbewusstsein und die Solidarität der Männer. Der Historiker Wolfgang Maderthaner spricht von einem „in der Kriegsgeschichte kaum vergleichbaren Akt der kollektiven Verweigerung“, in dem sich die Soldaten den Befehlen widersetzten und ihre Truppen verließen. Auch die zahlreichen Unruhen, Proteste und Meutereien im letzten Kriegsjahr, darunter die Matrosenrevolte von Cattaro im Februar 1918, belegen den Stimmungswandel und die Ernüchterung innerhalb des österreichisch-ungarischen Heeres.
Der Schriftsteller und vehemente Kriegsgegner Karl Kraus wandte sich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel vom Mai 1918 (Nr. 474) gegen den Begriff der „Kriegsmüdigkeit“:
„Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat.
Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des
Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers,
müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man
je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich
ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer
zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg
begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht
beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der
Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient
als — durchhalten!“
Kraus, Karl: Die Fackel, Heft 474-483, 23.5.1918, 153. Unter: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ (23.03.2014)
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011
Maderthaner, Wolfgang: „…Die Welt ist in die Hände der Menschen gefallen“ Anmerkungen zu einem zentralen Trauma der Moderne, in: Maderthaner, Wolfgang/Hochedlinger, Michael: Untergang einer Welt. Der große Krieg 1914–1918 in Photographien und Texten. Eine Publikation des Österreichischen Staatsarchivs, Wien 2013
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013
Sauermann, Eberhard: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar, 2000
Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002
Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 47-53
Winkelhofer, Martina: So erlebten wir den Ersten Weltkrieg. Familienschicksale 1914–1918. Eine illustrierte Geschichte, 2. Auflage, Wien 2013
Zitate:
„Was der Krieg …“: Walter Schmidt, zitiert nach: Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 53
„If any question …“: Kipling, Rudyard: Complete Verse. Definitive Edition, New York 1940, 388, zitiert nach: Verhey, Jeffrey: Der Geist von 1914, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 53
„in der Kriegsgeschichte …“: Maderthaner, Wolfgang: „…Die Welt ist in die Hände der Menschen gefallen“ Anmerkungen zu einem zentralen Trauma der Moderne, in: Maderthaner, Wolfgang/Hochedlinger, Michael: Untergang einer Welt. Der große Krieg 1914–1918 in Photographien und Texten. Eine Publikation des Österreichischen Staatsarchivs, Wien 2013, 33
„Kriegsmüde – das ist das dümmste …“: Kraus, Karl: Die Fackel, Heft 474-483, 23.5.1918, 153. Unter: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ (23.03.2014)