Gemeinsam sind wir stark: Der Panslawismus und das „Slawentum“
Die Utopie einer Vereinigung aller Slawen, die in der panslawistischen Sichtweise als eine einzige Nation verstanden wurden, diente den kleineren slawischen Völkern Zentraleuropas als anfängliche Stütze für ihre nationalen Emanzipationsbestrebungen, während die Deutschen und Magyaren darin die Horrorvision vom „Untergang im slawischen Meer“ zu erkennen glaubten.
Hej Ihr Slawen, noch lebt sie, unsere slawische Sprache,
solange unser treues Herz für unser Volk schlägt.
Es lebt, es lebt der slawische Geist, er wird auf ewig leben,
Donner und Hölle, vergeblich ist euer Wüten gegen uns!
Entstanden 1834, existierte diese Hymne der allslawischen Bewegung in mehreren sprachlichen Varianten. Sie diente u.a. als Kampflied der tschechischen Sokol-Bewegung, aber auch als Nationalhymne Jugoslawiens.
Die ideologische Bandbreite des Panslawismus reichte von einem bloß kulturellen Austausch unter den Slawen bis zur Maximalforderung einer staatlichen Einheit, wobei sich die Frage der Rolle Russlands in diesem Einigungsprozess stellte. Denn der Panslawismus spielte in Russlands Selbstsicht anfänglich kaum eine Rolle. In den 1840er Jahren kam zwar die Idee einer Vereinigung der österreichischen Slawen unter russischer Führung und deren Bekehrung zur Orthodoxie im Sinne eines großrussischen Imperialismus auf. Diese Utopie wurde von der russischen Staatsmacht aber angesichts der Allianz mit Österreich und Preußen nicht ernsthaft verfolgt. Generell war die Politik Russlands gegenüber Österreich-Ungarn kaum von panslawistischen Tendenzen geprägt. Anders war dies bei der russischen Balkanpolitik, wo Moskau die „slawische Karte“ sehr wohl ausspielte.
Eine andere Rolle spielte der Panslawismus in den politischen Konzepten der Slawen unter habsburgischer Herrschaft, die mit dem Gedanken einer allslawischen Einheit in Berührung kamen, als sie gerade am Beginn ihrer Nationswerdung standen. Die unter den slawischen Ethnien unter österreichischer Herrschaft anfänglich weit verbreiteten panslawistischen Schwärmereien waren im Versuch begründet, ein Selbstbewusstsein auszubilden, das auf der Größe des slawischen Sprachraums in Europa beruhte. Verstärkt wurde dies durch die Napoleonischen Kriege, als Russland als slawische Großmacht empfunden wurde.
Aber auch das Vorbild der deutschen Nationswerdung im Zeitalter der Romantik hatte großen Einfluss. Als Beispiel seien hier Johann G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1791) angeführt: Demnach gehörte den Slawen die Zukunft, denen Herder einen einheitlichen Volkscharakter (friedfertig, fleißig, bescheiden) zuschrieb, da diese allein aufgrund ihrer immensen Zahl nun im Zeitalter der freien Nationen das bestimmende Element in Europa sein würden. Herders positives Slawenbild fand unter den zentraleuropäischen Slawen ein enormes Echo.
Die Idee einer übergreifenden allslawischen Nation entstand auch durch den Kontakt mit der pangermanischen Ideologie, wie sie in deutschen Studentenkreisen der Zeit entwickelt wurde. Hier sind die beiden Slowaken Pavol Jozef Šafárik (1795–1861) und Ján Kollár (1793–1852) zu nennen, die zum Theologiestudium nach Jena gegangen und dort Zeugen des entstehenden Deutschnationalismus geworden waren. In diesem Geiste entstanden Kollárs Schriften über die Slawische Wechselseitigkeit (Slovanská vzájemnost, 1837) und Šafáriks Slawische Ethnographie (Slovanský národopis, 1842), welche die enge Verbindung der slawischen Völker und die enorme Ausdehnung des slawischen Sprachgebietes in Europa betonten und eine große Wirkung auf die jungen Nationsbewegungen der zentraleuropäischen Slawen hatten.
Nicht zufällig war die allslawische Orientierung gerade bei den kleinen – in der zeitgenössischen Diktion als „geschichtslos“ bezeichneten – slawischen Volksgruppen wie den Slowaken stark, die sich nun als Teil einer idealisierten großslawischen Sprachfamilie sahen. Eine ähnliche Argumentationslinie findet sich auch beim Doyen der slowenischen Nationalbewegung Jernej Kopitar (1780–1844), der im Sinne des Austroslawismus das Zentrum der slawischen Erneuerung in der Habsburgermonarchie, die er als slawisch dominiertes Reich darstellte, und nicht in Russland sah.
Diese frühe panslawische Romantik wurde jedoch bald von selbstzentrierten nationalen Ideologien abgelöst, da sich die individuellen Probleme der verschiedenen slawischen Völkerschaften der Habsburgermonarchie als zu unterschiedlich herausstellten. Auch angesichts der repressiven Politik des zaristischen Regimes gegenüber Polen und dessen massiver Ablehnung einer liberalen Ausrichtung der slawischen Kleinvölker in seiner Interessensphäre kühlten die allslawischen Phantasien in den 1860er Jahren rasch ab.
Der Panslawismus diente den Vertretern der österreichischen Slawen nun eher als „Rute im Fenster“ der Wiener Nationalitätenpolitik. 1867 begaben sich z. B. Repräsentanten der slawischen Volksgruppen Österreichs nach Moskau, um der dortigen ethnographischen Ausstellung anlässlich des Slawenkongresses einen demonstrativen Besuch abzustatten („Slawenwallfahrt“), der als Ausdruck der Ablehnung des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs zu verstehen war. Das Schreckgespenst der allslawischen Verschwörung unter russischer Führung wurde nun auch zum Totschlagargument der radikalen deutschen und magyarischen Nationalisten gegen jegliche Allianzen zwischen den slawischen Volksgruppen.
Am Vorabend des Weltkriegs brachte ein Generationswechsel radikalere Kräfte an die Macht. Auch bei den österreichischen Slawen war ein nationaler Schub in der politischen Repräsentation auszumachen. Ein typischer Vertreter dieser neuen Generation war Karel Kramář (1860–1937), der als Mandatar der national-liberalen Partei der Jungtschechen als Abgeordneter im Wiener Reichsrat fungierte. Persönlich russophil, war er ein Vertreter der neoslawischen Richtung unter den national gesinnten Tschechen. Analog zu den radikalen Deutschnationalen, die eine Schwärmerei für das „nordische Germanentum“ entwickelten, verherrlichten diese das „mythische Slawentum“. Aus der antiwestlichen Grundhaltung, die eine Rückbesinnung auf die slawischen Wurzeln forderte, sprach ein kritischer Standpunkt gegenüber der Moderne, wobei dieser politischen Strömung mitunter auch rassistisch-biologistische Untertöne nicht fremd waren.
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Lemberg, Hans: Der Panslawismus, in: Aschenbrenner, Viktor (Hrsg): Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn, Frankfurt am Main 1967, 481–488
Moritsch, Andreas (Hrsg.): Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas [Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Europäische Nationalismus- und Minderheitenforschung 1], Wien 1996
-
Kapitel
- Der Drang zur Vereinigung
- Der radikale Deutschnationalismus und seine Haltung zur Habsburgermonarchie
- Das Konzept des „Deutschen Mitteleuropas“
- Gemeinsam sind wir stark: Der Panslawismus und das „Slawentum“
- Aufstieg und Fall des Austroslawismus
- „Zwei Zweige einer Nation“ – Der Tschechoslowakismus als politisches Programm
- Viva l’Italia! Der italienische Irredentismus und die Habsburgermonarchie
- Vom Illyrismus zum Jugoslawismus: Konkurrierende Konzepte einer „südslawischen Nation“
- Élyen a Magyar – Lang lebe der Magyare! Die ungarische Magyarisierungspolitik