Auf der Suche nach dem „inneren Feind“
Der dritte Kriegswinter wurde zur Zäsur. Angesichts der permanenten Teuerungen und Verknappungen stieß die Opferbereitschaft der Bevölkerung an ihre Grenzen. Die Hungerkatastrophe bedrohte den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, soziale Gräben vertieften sich und die Suche nach den Schuldigen begann.
„Die große Zeit lastet auf allen wie ein Alp, man wäre so froh wieder in das eintönige Einerlei früherer Zeit, wo eine die Nichtigkeiten des Lebens interessierten zurückzukehren.Wie sonderbar mutet uns doch an, wenn Männer anfangen über die verschiedenen Mehl- und Brotsorten zu dozieren, jetzt ist Mais oder Roggenbrot den meisten wichtiger als Schiller und Goethe.“
Julie Söllner, Tagebuchaufzeichnung vom 8. März 1915, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien
Im Herbst 1916 kippte die Stimmung in der Bevölkerung. Die Vorräte waren aufgebraucht, dringend erwartete Importe aus Rumänien fielen aus und die Zuversicht, den Krieg wohlbehalten überstehen zu können, sank. Hunger und Nahrungsnot wurden zum Thema Nummer eins und drängten das Interesse am Kriegsverlauf und Berichten von den Fronten in den Hintergrund.
Die Warteschlangen auf Märkten, vor Läden und Ämtern waren soziale Schmelztiegel, in denen Gerüchte kursierten, Informationen ausgetauscht und Meinungen kundgetan wurden. Frauen hörten sich um und berieten darüber, wie es um das Angebot auf den Märkten stand. Vom Anstellen waren alle betroffen und Personen kamen miteinander in Kontakt, die einander in Friedenszeiten wohl kaum begegnet wären.
Mit dem zunehmenden Mangel schwand jedoch die Solidarität zwischen den Wartenden. Unterernährte und erschöpfte Menschen reagierten gereizt aufeinander, der Umgang untereinander wurde rauer. Penibel wurde darauf geachtet, dass die ungeschriebenen Gesetze des Wartens eingehalten wurden. Die Bereitschaft, Sonderrollen (etwa von Schwangeren, alten oder schwachen Personen) zu akzeptieren, schwand und täglich kam es zu Handgreiflichkeiten. Das allumfassende Elend ließ gesellschaftliche Tabus schwinden und zivilisatorische Übereinkommen einbrechen.
Als die Knappheit nicht länger durch sorgsames Haushalten auszugleichen war, begriff sich die (Zivil-)Bevölkerung immer mehr als Opfer des Krieges. Die staatliche Propaganda bemühte sich, die Feindstaaten als Verursacher der Not darzustellen, um den Burgfrieden zu wahren. Doch nun suchte man die Schuldigen in den eigenen Reihen. Spannungen entluden sich entlang gesellschaftlicher Gräben und unterschiedliche soziale Gruppierungen wurden für das Elend verantwortlich gemacht. Angeheizt wurde die Stimmung dadurch, dass die Not höchst ungleich verteilt war. Während die gehobenere Mittelschicht in den ersten beiden Kriegsjahren die schlechte Versorgungslage relativ leicht ausgleichen konnte und auch noch zu Kriegsende gegen teures Geld Waren in ausreichenden Mengen auf dem Schwarzmarkt erwerben konnte, litten weniger wohlhabendere Gesellschaftsschichten blanke Not und kämpften gegen die gravierenden Folgen der Unterernährung.
Doch nicht nur zwischen Arbeiterschaft und Mittelschicht, auch zwischen landwirtschaftlichen ProduzentInnen und urbanen KonsumentInnen verliefen soziale Bruchlinien, die durch die Ernährungsnot strapaziert wurden. Die Stadtbevölkerung fühlte sich aufgrund der stetig steigenden Lebensmittelpreise von den Bauern und Bäuerinnen übervorteilt. Gerüchte kursierten über maßlose Landwirte, die von dem Elend profitierten und ihre Scheunen bis obenhin mit dem Prunk der Städter füllten. Hinzu kam die Wertekrise der Mittelschicht, deren Lebensstandard unter dem Kriegselend litt und die anerkennen musste, dass Konsumgüter, die einst als wertvoll gegolten hatte, angesichts der Lebensmittelpreise an Bedeutung verloren.
KäuferInnen bespitzelten einander und beschuldigten die Händler, durch das Zurückhalten von Waren die Preise zu treiben und gegen das Gemeinwohl zu agieren. GroßgrundbesitzerInnen und GroßhändlerInnen wurde vorgeworfen, erworbene Waren mit großem Gewinn weiterzuverkaufen und aus der Not der Bevölkerung Profit zu schlagen. Schieber, Spekulanten und Kriegsgewinnler wurden zum Feindbild Nummer eins.
Zeitungen propagierten das Stereotyp des jüdischen Kriegsgewinnlers. Nachbarn und Kaufleute denunzierten einander mit dem Vorwurf, ungeheure Mengen an Lebensmitteln zu horten. Unter dem Eindruck vollkommener Erschöpfung drohte der gesellschaftliche Zusammenhalt zu zerfallen. Basis aller Feindseligkeiten war der Eindruck, dass die Kriegslast ungleich verteilt wäre. Gerüchte kursierten, dass die Versorgungskrise nicht auf einen Rückgang der Exporte und schlechte Ernten zurückzuführen sei, sondern an der ungerechten Verteilung läge.
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