Aus Wiener Sicht galt es, die Etablierung Russlands als Schutzmacht der orthodoxen Balkanslawen zu verhindern. Die habsburgische Balkanpolitik war daher an einer Stärkung der österreichischen Präsenz am „Pulverfass“ Balkan interessiert. Dem stand jedoch der Aufstieg Serbiens als regionale Macht gegenüber.
Die wachsende Bedeutung Serbiens, das sich schrittweise aus der osmanischen Oberhoheit befreit hatte, ließ den jungen Staat immer aggressiver die Forderung nach der „Heimholung“ vermeintlich „serbischer Erde“ stellen. So führte der serbische Irredentismus zu bewaffneten Aufständen bosnischer Serben gegen die osmanische Herrschaft in Bosnien. Dieser Kleinkrieg lokaler Separatisten gegen die osmanische Provinzverwaltung wurde von Serbien und Montenegro sowie Russland offen unterstützt.
So weitete sich 1875 ein Aufstand in der Herzegowina zu einem Befreiungskrieg der Serben unter osmanischer Herrschaft aus, der von den bereits de facto unabhängigen jungen Staaten Serbien, Rumänien und Griechenland unterstützt wurde. Das vermeintlich schwache osmanische Regime zeigte seine Stärke: Nur durch das energische Eingreifen der Russen konnten die Serben vor einer Katastrophe gerettet werden. Die Lage ausnutzend startete Russland 1877 eine weitere militärische Intervention mit dem Ziel, die Osmanen vom Balkan zu verdrängen: Ein „Großbulgarisches Reich“ sollte als russischer Satellitenstaat am Ostbalkan entstehen.
Als Reaktion auf die russischen Ambitionen sah sich Österreich-Ungarn gezwungen, seine Position als regionale Großmacht am Westbalkan zu verstärken. Neben der Hoffnung auf territoriale Zugewinne sah man in Wien in der Intervention ein Mittel, die südslawischen Nationalismen in eine pro-österreichische Richtung zu lenken. Franz Joseph signalisierte dem Sultan seine Unterstützung, und Wien inszenierte sich am internationalen Parkett als „Retter in der Not“, der das „balkanische Chaos“ einzudämmen versuchte. Wien bot dem osmanischen Partner „Entwicklungshilfe“ in Form einer Beteiligung am Ausbau der Infrastruktur und der kartographischen Landaufnahme am Westbalkan an. Dies geschah nicht ganz uneigennützig, denn damit wurden die österreichischen Strategen mit den dortigen Gegebenheiten bestens vertraut.
Offiziell dementierte das Wiener Außenministerium Expansionsgelüste auf bosnisches Territorium, intern wurde jedoch ein Einmarsch vorbereitet. Für eine expansive Balkanpolitik Österreich-Ungarns sprach sich auch die Armeeführung aus, denn Dalmatien wäre als exponierter Außenposten im Krisenfall kaum zu halten gewesen – Bosnien und Herzegowina fungierten hier als Landbrücke, da Teile Süddalmatiens nur über den Seeweg zu erreichen waren. Auch der wirtschaftliche Ausbau Dalmatiens wäre nur unter Einbeziehung des bosnischen Hinterlandes sinnvoll gewesen.
Dieser kolonialistisch-imperialistische Zugang war typisch für das Zeitalter der Endphase der Expansion der Großmächte. Die letzten „verfügbaren“ Territorien wurden kolonisiert, in Europa bildete der Balkan unter der schwachen Herrschaft des „kranken Mannes am Bosporus“ die letzte Landreserve. Auch Kaiser Franz Joseph befürwortete eine Erweiterung der Habsburgermonarchie, um die territorialen Verluste, die man im Einigungsprozess Italiens erlitten hatte, zu kompensieren.
Um die Zustimmung der europäischen Großmächte zu einer Okkupation Bosniens und der Herzegowina zu erlangen, musste sich die kaiserliche Diplomatie jedoch international absichern, denn dieser Schritt implizierte einen schweren Konflikt mit Russland. Das Forum hierfür wurde der Berliner Kongress von 1878, bei dem die Machtverhältnisse am Balkan auf eine neue Grundlage gestellt werden sollten.
Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999
Džaja, Srećko: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918) (Südosteuropäische Arbeiten 93), München 1994
Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
-
Kapitel
- Unter dem Halbmond: Das Osmanische Reich und Europa
- „Der kranke Mann am Bosporus“ – Eine Großmacht im Niedergang
- Die „Balkanisierung“ des Balkans – Der Emanzipationskampf der Völker als Störfaktor
- Bosnien und die österreichischen Großmachtbestrebungen am Balkan
- Der Berliner Kongress und die Aufteilung des Balkans
- Die Annexionskrise 1908
- Die Balkankrise 1912/13 – ein Vorspiel für den Weltkrieg