Am Vorabend des Ersten Weltkriegs litt das politische System der österreichischen Reichshälfte an einer schweren Krise. Auf der Regierungsbank konnte man um die Jahrhundertwende einen raschen Wechsel der Regierungen beobachten.
„Das österreichische Parlament ist das schwächste, wenn nicht schon in der Welt, so doch in der Kulturwelt.“
Aus: Der Parlamentarismus. Sein Wesen und seine Entwicklung, Wien 1914; zitiert nach: Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005, S. 230
Auf die Ära des Ministerpräsidenten Eduard Graf Taaffe, der dank seiner Politik des „Fortwurstelns“ – die Regierungsarbeit beschränkte sich in der Regel auf den Erhalt des Status quo – von 1879 bis 1893 regierte, folgte eine Vielzahl von Regierungen, die selten länger als zwei Jahre durchhielten. Daher kam man in Österreich zwischen 1871 und 1917 auf 20 Regierungschefs, während Deutschland im selben Zeitraum nur fünf Regierungswechsel erlebte.
Unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelang es dem Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh, der einen sehr autoritären Stil pflegte und unter dessen Ägide (1911–1916) auch die Suspendierung des Reichsrates 1914 fiel, sich länger im Sattel zu halten. Nach dessen Ermordung im Oktober 1916 bis zum Ende der Monarchie im Oktober 1918 wechselten sich in rascher Folge weitere fünf Regierungen ab.
Ein Grund für die Schwäche der Regierungen Cisleithaniens war auch, dass die oft nur mit hauchdünnen Mehrheiten im Reichsrat ausgestatteten Regierungschefs nicht immer auf die Rückendeckung durch den Monarchen vertrauen konnten. Franz Joseph, dem in politischen Entscheidungen angesichts der österreichischen Realverfassung das letzte Wort zufiel, ließ des Öfteren in Krisensituationen seinen Ministerpräsidenten fallen.
Daher wurden durchgreifende Reformen vermieden und Lösungen für den Augenblick der Vorrang eingeräumt. Die Regierungen waren aufgrund mangelnder politischer Durchsetzungskraft selten in der Rolle des Gestalters, sondern wurden von den in Fundamentalopposition verharrenden destruktiven Extremisten im Reichsrat vor sich hergetrieben. Ein beliebtes Mittel der Opposition war der Obstruktionismus, der von einer passiven Resistenz bis zu handfestem Aktionismus reichen konnte. Das auf Eskalation abzielende, unverantwortliche Handeln der Parlamentarier gipfelte in Schreiduellen, Lärmstörungen und Schlägereien, die mitunter einen Polizeieinsatz bedingten, um die sich prügelnden Abgeordneten zu trennen.
Die Regierungen reagierten darauf ebenfalls mit Extremmaßnahmen wie dem Notverordnungsrecht. Der sogenannte Notstandsparagraph (§ 14 der Verfassung) erlaubte es, schwierige und kontroversielle Entscheidungen am Parlament vorbei zu treffen. Diese Aushöhlung des Parlamentarismus wurde durch den Missstand verstärkt, dass Maßnahmen oft in Form von „Deals“ zwischen Abgeordneten und der Spitzenbürokratie abseits der oppositionellen Kontrolle getroffen wurden. Diese „Kunst der Intervention“, aber auch Patronage und Korruption, und mitunter ein „Machtwort“ des Kaisers, das parlamentarische Entscheidungsprozesse aushebelte, ließen die Bedeutung einer parlamentarischen Öffentlichkeit gering erscheinen.
Im März 1914 führte die Krise des Parlamentarismus schließlich zur Auflösung des Parlaments unter Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh. Das Abgeordnetenhaus wurde vertagt und bis 1917 nicht wieder einberufen. Österreich wurde ab diesem Zeitpunkt durch ein bürokratisch-autoritäres Regime regiert. Bei Kriegsausbruch führte die Herrschaft der Spitzenbürokratie ohne parlamentarische Kontrolle zu einer Wiedereinführung des Absolutismus durch die Hintertüre.
Dies wurde traurigerweise nicht nur akzeptiert, sondern von nicht geringen Teilen der Öffentlichkeit angesichts der katastrophalen politischen Kultur des österreichischen Parlamentarismus sogar begrüßt. Das Ansehen des Parlaments, das in der Wahrnehmung der Medien als „reines Affentheater“ verunglimpft wurde, war über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg sehr niedrig, sodass die Notwendigkeit einer Volksvertretung gering erachtet wurde.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Wandruszka, Adam (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band VII: Verfassung und Parlamentarismus. Teil 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit und zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000
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Kapitel
- „Gott erhalte!“ – Der Kaiser
- „In Deinem Lager ist Österreich!“ – Die Armee
- Der verlängerte Arm der Staatsmacht: Die Bürokratie
- Die Doppelmonarchie: Zwei Staaten in einem Reich
- „Unteilbar und Untrennbar“ – Der Gesamtstaat
- Die Habsburgermonarchie im Prozess der Demokratisierung
- Der Mangel an politischer Kultur
- Der starke Monarch und der Hang zum Autokratismus