Die österreichische Spielart des Konstitutionalismus war geprägt von der überaus starken Position des Kaisers, während im Gegensatz dazu der Volksvertretung nur eine vergleichsweise schwache Rolle zugebilligt wurde.
„Die den Herrschern von Gott auferlegte Pflicht ist ihre Völker zu führen und wenn diese Völker – wie in unserer Monarchie – nicht reif sind selbst Vernunft anzunehmen, so müssen sie dazu gezwungen werden. Der Oktroi und die Gewalt sind berechtigt, auch wenn sie eine Einschränkung der Volksrechte bringen.“
Zitiert nach: Jean-Paul Bled: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger, Wien u. a. 2013, S. 219. Originalzitat aus: Robert A. Kann: Erzherzog Franz Ferdinand Studien, München 1976, S. 186
„Ich weiß, was ich getan habe; ich habe nicht antipatriotisch gehandelt.“
Die Habsburgermonarchie war seit der Dezemberverfassung von 1867 endgültig eine konstitutionelle Monarchie, in welcher der Monarch durch verfassungsmäßige Bestimmungen in seiner Machtvollkommenheit beschränkt war. Das österreichische Parlament, der Reichsrat, stand jedoch auf schwachen Beinen, denn es war bloß „zur Teilnahme an dem Rechte des Kaisers zur Gesetzgebung und Verwaltung“ vom Monarchen betraut worden, wie es in einem 1911 erschienen Werk zur Österreichischen Bürgerkunde bezeichnenderweise formuliert wurde. In der Habsburgermonarchie wurde die Verfassung vom Kaiser gewährt, der dadurch einen Teil seiner Macht an das Parlament abgab. Der Umfang der Rechte der Volksvertretung war in der Verfassung genau beschrieben – alles, was darüber hinausging, blieb jedoch in der Machtvollkommenheit des Kaisers. Franz Joseph behielt sich auch die Möglichkeit des Widerrufs vor, denn die Verfassung ging ja von seiner kaiserlichen Autorität aus, und nicht von der Volkssouveränität.
Hier bestand der große Unterschied zu einer parlamentarischen Monarchie, wie sie zum Beispiel in Großbritannien Tradition war. Dort war das Parlament der Vertreter der Volkssouveränität, die dem Monarchen in der Verfassung genau definierte und in der Regel eher symbolische Rechte als Staatsoberhaupt zugestand.
Die Machtlosigkeit der österreichischen Volksvertretung wurde angesichts der Selbstblockade des Parlaments, das in seiner Funktion vor allem durch die alles beherrschenden Nationalitätenkonflikte gelähmt wurde, zusätzlich offenbar. Das geringe Ansehen des Parlamentarismus, das nicht zuletzt auf die mitunter erschreckende politische Kultur, die im Reichstag herrschte, zurückzuführen war, ist aus einem Ausspruch von Außenminister Ottokar Graf Czernin abzulesen, der die Parlamentarier pauschal als „verluderte Bagage“ beschimpfte.
Daraus sprach eine gewisse Grundhaltung innerhalb der alten Eliten, die angesichts der komplizierten politischen Realitäten im Zeitalter der modernen Massenparteien für eine Rückkehr zum monarchischen Autokratismus des Neoabsolutismus plädierten. Extreme Konservative waren der Idee eines „Staatsstreiches“ nicht abgeneigt, womit die Verfassung außer Kraft gesetzt werden sollte. Diese Kreise sahen in der Einführung einer monarchischen Diktatur die Lösung für die politische Pattsituation.
Ein Symbol für diese Richtung war Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, der seit November 1911 der cisleithanischen Regierung vorstand. Aus seiner Suspendierung des Reichsrats im März 1914 sprach die Überzeugung, dass nur ein starkes kaiserliches Regime die Zukunft der Monarchie sicherstellen könne.
Mit seinem Mordanschlag auf Ministerpräsident Stürgkh am 21. Oktober 1916 wollte Friedrich Adler, Sekretär der sozialdemokratischen Partei und Chefredakteur der sozialistischen Zeitschrift Der Kampf, ein Fanal gegen die Einführung des Absolutismus durch die Hintertüre setzen.
Adler, der Sohn des sozialdemokratischen Parteiführers Viktor Adler, sah aufgrund der Aussetzung des Parlamentarismus und der strengen Medienzensur keine legale Möglichkeit mehr, seinen Protest zu äußern. Der gegen ihn geführte Gerichtsprozess wurde zu einem politischen Schauspiel. Adlers leidenschaftliches Plädoyer war eine Abrechnung mit der eigenen Partei, der er Prinzipienlosigkeit vorwarf, aber auch ein Weckruf für die österreichischen demokratischen Kräfte, die sich mit der schwachen parlamentarischen Kultur im Land abgefunden hatten.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Wandruszka, Adam (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band VII: Verfassung und Parlamentarismus. Teil 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit und zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000
Zitat:
„zur Teilnahme an dem Rechte des Kaisers ...“, zitiert nach: Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005, 230
-
Kapitel
- „Gott erhalte!“ – Der Kaiser
- „In Deinem Lager ist Österreich!“ – Die Armee
- Der verlängerte Arm der Staatsmacht: Die Bürokratie
- Die Doppelmonarchie: Zwei Staaten in einem Reich
- „Unteilbar und Untrennbar“ – Der Gesamtstaat
- Die Habsburgermonarchie im Prozess der Demokratisierung
- Der Mangel an politischer Kultur
- Der starke Monarch und der Hang zum Autokratismus